Kritik: Holy Spider
Verrückt nach Gott
Jetzt direkt streamen auf:
[jw_add_widget-sc]
Verrückt nach Gott
Jetzt direkt streamen auf:
[jw_add_widget-sc]
Die heilige Stadt Maschhad ist ein Pilgerzentrum des Iran. Doch seit einiger Zeit lässt eine Mordserie die Region erschauern: Der „Spinnenmörder“ geht um. Der Familienvater Saeed (Mehdi Bajestani) zieht nachts los, lockt Prostituierte in seine Wohnung und ermordet sie. Dabei handelt er aus religiösen Motiven, um die Straßen „von unreinen Sittenlosen zu reinigen“. Die Journalistin Rahimi (Sahra Amir Ebrahimi) schreibt über die Fahndung nach dem Mörder, doch stößt bei Zeug:innen, Bürger:innen und Polizei auf eine kalte Wand, die ihr zu denken gibt, ob der Mörder überhaupt gefasst werden soll.
Das ist er also. Der Ort, der seit Monaten durch Nachrichten und Köpfe spukt, an dem unfassbares Unrecht geschieht. Der Ort, an dem Gottesstaat und Moderne aufeinanderprallen und auf dem Rücken der Bürger:innen einen Kampf austragen, auf den die Welt blickt. Die Kamera lässt uns hinunterblicken auf Maschhad, zweitgrößte Stadt des Iran, und für einen Moment erkennen wir in diesem nächtlichen Meer aus Licht und Straßen eine Struktur: ein Spinnennetz. Alle Wege führen hin zum heiligen Schrein im Stadtzentrum, dazwischen kleine Gassen, Putz, der von den Wänden bröckelt. Millionen von Pilgern werden jedes Jahr angezogen, treten ein in das Netz aus Straßen, bewegen sich Richtung Zentrum – und nicht alle schaffen es zurück. Mit dem florierenden Tourismus kommen, wie überall auch, Begleiterscheinungen, welche der Obrigkeit ein Dorn im Auge sind: Drogen und Prostitution. Der Film schenkt diesen Gesellschaftsbereichen besondere Aufmerksamkeit und setzt dadurch erste Nadelstiche (weitere sollen folgen): Ja, in der Islamischen Republik gibt es Drogenkonsum und Prostitution – beides eigentlich streng verboten.
Doch geht es dem Regisseur nicht um Provokation, sondern ernsthafte Empathie für die Menschen, die an den Randbereichen der Gesellschaft leiden – diese Aufmerksamkeit gegenüber den Opfern gibt es selten in der modernen Medienlandschaft, die zwar einen deutlichen True Crime-Fetisch entwickelt hat, sich dennoch lieber mit voyeuristischer Pathologie der Täter:innen aufhält, als die Opfer ernst zu nehmen. Die Opfer des Spinnenmörders sind keine namenlosen Drehbuchfiguren, sondern tragische Ausgestoßene. In die Abhängigkeit getriebene Junkies, die sich prostituieren müssen, um eine weitere Woche zu überleben – falls sie nicht direkt vom Freier getötet werden. Ali Abbasi holt die Iranerinnen vor die Kamera, die in den letzten Monaten weder im Fernsehen noch auf Twitter eine Stimme hatten.
Auch den anderen „Beteiligten“ wird genug Raum gegeben. Den Opfern, der Familie der Opfer, der Familie des Täters, alle kommen zu Wort, alle Schichten legen sich übereinander und schärfen das Bild der Tat und der Gesellschaft, die solche Taten möglich macht. Als erzählerischen Kniff wird uns hierbei die Journalistin Rahimi zur Seite gestellt. Ihre Aufgabe ist es nicht, den Täter zu fassen, sondern die Ermittlungsarbeiten zu dokumentieren – sie wird zur Kamerafrau ohne Kamera. Durch sie nehmen wir einen weiblichen Blickwinkel ein und erleben erniedrigende Momente, beim Check In ins Hotel, auf dem Polizeirevier, an jeder Straßenecke. Unterm Hidschab hervorlugende Haar werden mit bösen Blicken sanktioniert, die Sittenpolizei lauert an jeder Ecke. Der Spinnenmörder hat ein stabiles Netz, das ihn trägt.
Im Zentrum der Erzählung steht natürlich der Täter selbst, nicht jedoch als psychopathischer Einzeltäter sondern als Symptom eines Landes, das Hass gegenüber Außenseitern schürt und Selbstjustiz in Kauf nimmt. Seine Darstellung ist überzeugend, mitnehmend, dennoch wünscht man sich nach dem Abspann, der Film hätte weniger Zeit mit dem Mörder als mit seiner Umwelt verbracht. Krimis mit Täterfixierung gibt es genug. Das, was diesen Film ausmacht, ist die Betrachtung seiner Lebenswelt.
Überhaupt sind die ersten zwei Drittel des Films sehr konventionell. Gängige Serienkiller-Kost, die selbst in ihrem hohen Gewaltgrad nichts neues im Jahr 2023 ist. Als wäre er seinem eigenen Potential nicht bewusst, verbringt der Film viel spannungsgeladene Zeit mit den Morden und verliert dadurch Spielzeit, die besser der Erkundung des Täterprofils und seiner Umwelt zugekommen wäre. Dabei brummelt ein Soundtrack, der zwar stimmungsvoll ist, aber auch beliebig. Synthesizer-Grollen wie aus dem Intro eines True Crime-Podcasts, repetitiv und schnell vergessen. Der Film wäre ein belangloser Krimi fürs Spätprogramm der Öffentlich-Rechtlichen, wäre da nicht das letzte Drittel.
Die Festnahme des Mörders wird überraschend nicht zum Happy End, sondern zum dramaturgischen Wendepunkt. Erst hier findet der Film wirklich zu sich selbst und entwickelt eine Botschaft. Für Mörder Saeed wird es zur Befreiung, alle Last fällt von ihm ab. Die schauspielerische Leistung ist gut, aber doch nicht ganz glaubhaft. Doch im Dienste des Dramas sei es verziehen, dass allzu plötzlich die Masken fallen und der Spinnenmörder offen über seine fanatisch-religiösen Motive spricht. Auch Sahra Amir Ebrahimi legt einen Endspurt hin, ihre ohnehin engagierte Rolle als kämpferische Reporterin schaltet einen weiteren Gang hoch und kämpft nun nicht für ihre Story sondern für sich, die Gerechtigkeit und alle Frauen des Iran.
Zu spät, doch endlich, schält sich die Vision des Regisseurs heraus: der Film über eine Mordserie vor zwanzig Jahren ist ein Erklärungsversuch der aktuellen Situation des Landes. Misogynie, unterstützt von religiösen Strukturen und gesellschaftlicher Kälte sind kein Phänomen des letzten Jahrzehnts, sondern tief verwurzelt, weitergegeben von Generation zu Generation. In einer wirklich meisterhaften Entscheidung wendet das Drehbuch seine Aufmerksamkeit zum Ende hin Ali (Mesbah Taleb) zu, dem Sohn Saeeds, der seinen Vater verehrt, trotz seiner Taten – oder, so spüren wir es: wegen seiner Taten. Völlig geblendet von den wahnsinnigen Reden seines Vaters, unterstützt von der Menge, die vor dem Gefängnis die Begnadigung des Spinnenmörders fordert, müssen wir Zeuge werden, wie im Moralsystem eines kleinen Jungen Gut und Böse verschwimmen, wie ein Mörder aus religiösen Beweggründen entschuldigt wird und wie aus den Opfern „sittenlose Huren“ gemacht werden. Ali, im Jahr 2001 ein Junge an der Schwelle zum Teenager-Alter, ist im Jahr 2023 ein erwachsener Mann. Vielleicht ist er noch heute von der Ehre seines Vaters und der Rechtmäßigkeit der Ermordung von 17 Frauen überzeugt – weil es Familie, Nachbarn und Autoritätspersonen so geschehen ließen. Gegen ihn und alle seine gleichgültigen Mitmenschen kämpfen Regisseur Ali Abbasi und zehntausende Iraner:innen jeden Tag.
„Der Film der Stunde“ ist Holy Spider leider nicht. Das Drehbuch hat viel zu erzählen über das Land, in dem die Frauenfeindlichkeit im Jahr 2001 genauso wie im Jahr 2023 wütet. Es gibt keinen Ort, an dem die Kamera nicht ist, sie schenkt allen Aufmerksamkeit und leuchtet die Psyche der vielschichtigen Gesellschaft aus. Doch leider sind diese herausragenden Momente selten. Scheinbar glattgebügelt vom True Crime-Hype ist der Film über weite Strecken sehr konventionell, setzt zu oft auf schockierende Bilder statt Tiefgang und erreicht erst zum Ende wirklich interessantes Terrain. Doch jedes lebendige Signal aus der iranischen Gesellschaft, welches den Finger in die Wunde legt, ist ein gutes Zeichen.
Artikel vom 17. Januar 2023
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!