Kritik: The Zone of Interest
WIR HABEN NICHTS MITBEKOMMEN
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Während im Stammlager Auschwitz unmenschliche Verbrechen geschehen, herrscht nur wenige Meter entfernt trügerischer Frieden. Direkt hinter der Lagergrenze pflegt die Familie des Lagerkommandanten Rudolf Höß (Christian Friedel) das Idealbild der NS-Propaganda. Hedwig (Sandra Hüller) backt, empfängt Besuch und erzieht die Kinder. Sie gibt ihr bestes, trotz der grausamen Kulisse hinter der Mauer, ein normales Leben zu führen, genießt aber auch die Privilegien und konfiszierte Wertgegenstände. Rudolf leitet als gewissenhafter Bürokrat das Lager im Sinne der Endlösung und strebt weitere Effizienzsteigerungen an. Die beiden gehen im NS-Staat auf, in dem Pflichterfüllung, Rollenverteilung und Führerkult die individuelle Verantwortung für Verbrechen ersetzen.
Im 1993 veröffentlichten Film Blue von Derek Jarman spielt die titelgebende Farbe die Hauptrolle. Es gibt nichts zu sehen außer einer blauen Leinwand, es gibt keine Kulisse, keinen Schnitt, keine Kostüme, kein Licht. Nur Ton. Und dennoch entsteht ein dramatisches Filmerlebnis. The Zone of Interest ist im Vergleich dazu ein weitaus konventionellerer Film, doch verbindet die beiden ein Merkmal: der Glaube an die Tonspur. The Zone of Interest ist ein akustisches Filmerlebnis. In diesem ungewöhnlichen Holocaust-Drama ist das Grauen nicht zu sehen, doch bricht es durch Ton immer wieder in die Geschichte ein.
Die Ebenen des Films schieben sich diametral übereinander, im Vorgarten hört man Wachen Befehle bellen, Kinderlachen mischt sich mit Schüssen. Die Dissonanz zwischen Bild und Ton, gemeinsam mit dem Soundtrack von Mica Levi, überanstrengt beim Kinobesuch so sehr, dass man bald meint, in jedem Stimmengewirr Schreie wahrzunehmen. Was nicht zusammengehört, muss dennoch nebeneinander existieren – im Film und in der Psyche der Figuren.
Wie kaum ein anderen Film über NS-Geschichte beleuchtet The Zone of Interest die psychischen Prozesse der Täter:innen. Diese sind keine eindimensionalen Bösewichte, doch sollen auch nicht ihre Taten entschuldigt werden. Vielmehr interessiert Jonathan Glazer, wie in dieser Zone der gegenüberstehenden Welten gelebt werden kann. Wie kann man Kinder erziehen, wenn jenseits des Gartenzauns Kinder hungern? Die zentrale Frage des Films ist: Kann Leid endgültig verdrängt werden? Kann man, denn so lautete ein bekanntes Mantra der Kriegsgeneration, so etwas nicht mitbekommen haben? Kann der Alltag, zwischen Arbeiten, Verwandtenbesuchen und Kindererziehung derart betäuben, dass man den Qualm des Krematoriums nicht mehr riecht?
Der Film ist ein radikaler Versuch, der es den Zuschauer:innen ermöglicht, sich eben jenen Fragen auszusetzen. Nehmen wir noch alle Exekutions-Schüsse im Hintergrund wahr? Fragen wir uns, wie viel von der Ausstattung im Hause Höß von KZ-Insassen geraubt ist? Oder lassen wir uns blenden vom Familienidyll und verdrängen die Störgeräusche? In der Figur von Hedwig Höß erleben wir, wie Menschen es schaffen, diese Dissonanz zu verinnerlichen. Den Kindern gelingt es noch nicht. Sie schlafen schlecht, haben Albträume. Doch Spielzeugsoldaten und HJ-Uniform bereiten sie auf die faschistische Moralakrobatik vor.
Die Persona Rudolf Höß wurde bereits in der hervorragenden Charakterstudie Aus einem deutschen Leben (1977) betrachtet. Das Ausleuchten seiner Frau Hedwig wurde nun mit Spannung erwartet und alles, was man über den Film hörte, suggerierte das. Es stellt sich jedoch als Finte der deutschen Presse heraus, welche, etwas stolz, den Scheinwerfer auf Oscar-Kandidatin Sandra Hüller richten wollte. Sie ist nicht der Mittelpunkt des Films – das ist zunächst enttäuschend, doch zur Mitte hin schafft es der Film, sich respektvoll von ihr zu lösen.
In einem spannenden Oscar-Jahr reiht sich The Zone of Interest spät ins Rennen ein, dafür aber umso stärker. Der Film besticht durch starkes Schauspiel, rüttelt emotional auf und setzt alle filmischen und akustischen Mittel des Kinos ein, ohne sich undurchdachten Spielerein hinzugeben. Fokussiert umkreist die Geschichte eine zentrale Lüge der NS-Verbrechen: dem Verstecken der Täter hinter Pflicht und Ignoranz. Die Antwort Glazers lautet: Es gibt keine Ausrede und kein Verdrängen. Wie dick und gepflegt der Panzer auch ist, es gibt Risse, durch die das Leiden eindringen muss.
Artikel vom 7. März 2024
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