8.1/10

Kritik: Sing Sing

FEEL-GOOD IM KNAST?

Genres: Drama, Startdatum: 27.02.2025

Interessante Fakten für…

  • Die Gefängnis-Szenen wurden unter anderem in der Downstate Correctional Facility gedreht, ebenso in der Beacon High School und dem Hudson Sports Complex.
  • Jeder Schauspieler erhielt dieselbe Gage sowie Anteile am Film.

Mit drei Nominierungen ist „Sing Sing“ der Underdog der diesjährigen Oscar-Verleihung. Verdient hätte er die Trophäen allemal, denn das Gefängnis-Drama nach wahrer Begebenheit windet sich gekonnt um Konventionen und Klischees und findet seine eigene, kraftvolle Stimme.

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Darum geht’s

Der charismatische John „Divine G“ Whitfield (Colman Domingo) ist seit vielen Jahren im Hochsicherheitsgefängnis Sing Sing inhaftiert. Als Schauspieler, Autor und Mentor der anderen Insassen findet er im Theaterprogramm „Rehabilitation Through the Arts“ einen Weg, seiner Kreativität Ausdruck zu verleihen und dem tristen Gefängnisalltag zu entfliehen.

Als der unberechenbare Clarence „Divine Eye“ Maclin (Clarence Maclin) dem Ensemble beitritt, kommt es zu ersten Spannungen – denn der Neuankömmling weigert sich partout gegen den ermutigenden Spirit der eingefleischten Gruppe. Als der externe Regisseur Brent Buell (Paul Raci) mit den Insassen ein neues Theaterstück entwickelt, kommt allmählich das Potenzial – und die tiefen Wunden der Teilnehmer zum Vorschein.

Keine Klischees, viel Kunst

Wer mit dem Genre des Gefängnisfilms vertraut ist, hat in etwa eine Vorstellung davon, wie es hinter Gittern – augenscheinlich – zugeht: Messerstechereien, trainierende Muskelprotze, toxische Männlichkeit und ein durchweg harter Umgangston. Doch Regisseur Greg Kwedar umgeht geschickt jegliche Klischees, indem er den Großteil der Handlung in den Proberaum des Gefängnisses verlagert.

Ungleich, aber ähnlich talentiert: Divine G (Colman Domingo, links) und Divine Eye (Clarence Maclin).

Und hier wird ohne Umschweife klar: Das Rehabilitationsprogramm bringt die losgelösten, kreativen und weichen Seiten der Häftlinge hervor. Wenn sie in einer Aufwärmübung als Zombies herumlaufen oder kindlich-spielerisch Schwertkämpfe darbieten, wenn sie hitzig darüber diskutieren, ob ein Shakespeare oder Zeitreise-Stück aufgeführt wird oder sich in den ruhigen Momenten öffnen – mit ihren Ängsten, ihrer Herkunft, ihren Unsicherheiten. Allein, dass Sing Sing so wunderbar anders ist als das Bekannte, zieht einen sofort in den Film hinein.

Umgedeutete Dramaturgie und Figuren zwischen den Zeilen

Selbst dann, wenn man als Zuschauer:in glaubt, die Struktur des Filmes durchdrungen zu haben, schlägt er unerwartete Haken. Denn zunächst wirkt das alles wie ein Feel-Good-Movie, indem der grimmige Neue allmählich seine Mauern fallen lässt und den Glauben an die Gemeinschaft wiederfindet. Das ist mit Sicherheit auch eines der zentralen Themen von Sing Sing, doch ist „Divine Eye“ nicht die einzige Figur, die mit sich und den eigenen Glaubenssätzen konfrontiert wird.

Ausgerechnet Everybody’s Darling „Divine G“, der als Energiebündel, kompromissloser Ermutiger und die Kunst durchdringender Protagonist agiert, bekommt es in der zweiten Hälfte des ohnehin knackig inszenierten Films mit etlichen juristischen, künstlerischen und persönlichen Problemen zu tun. Da er Identifikationsfigur ist, sind diese Szenen wie ein Schlag in die Magengrube. Und auch darin macht Sing Sing deutlich: Gemeinschaft ist keine One-Way Road, fühlt man sich auch noch so unabhängig von allem.

„We here to become human again, to put on nice clothes and dance around and enjoy the things that is not in our reality.“

Sean Johnson in Sing Sing

Sing Sing ist konfrontativ, aber zu keiner Sekunde aufgesetzt oder effekthascherisch. Vielmehr werden kleine Informationen über die Insassen und deren (vorheriges) Leben behutsam in die Handlung verwoben, sodass man sie auch leicht übersehen könnte. Beim genauen Blick zwischen die Zeilen eröffnen sich ganz neue Antworten, auch wenn sie nicht ausbuchstabiert werden: Wie sind die Insassen hier gelandet? Haben sie Familie und wollen ihre Kinder noch etwas von ihnen wissen? Wie haben sie sich davor geschützt, nicht abzustumpfen – und ist das überhaupt möglich, in einer solchen Umgebung?

Eine Übung, die der Regisseur Brent Buell mit den Teilnehmern macht, öffnet Welten. Wenn sich reihum jeder in seinen Happy Place begibt und danach davon berichtet – sei es das Picknick mit der Frau oder die Liebe zu Kirscheis –, dann werden die Figuren nur durch diese winzigen Informationen deutlich greifbarer. Und sie wachsen auch den Zuschauer:innen ans Herz.

Ex-Häftlinge spielen sich selbst

Colman Domingo (Euphoria, Fear the Walking Dead) brilliert in der Rolle des nahbaren und empathischen quasi-Gruppenleiters. Mit einer ungeheuren Präsenz und einer immensen emotionalen Bandbreite trägt er den Film mit Bravour und darf sich – vollkommen zurecht – über eine Oscar-Nominierung freuen (auch, wenn die begehrte Trophäe vermutlich an Adrien Brody gehen wird). Perfekt ergänzt wird er von Sean San Jose, der für die emotionalste Szene des Films verantwortlich ist.

Ein seltenes Bild in Gefängnis-Filmen: Die leuchtenden Augen der Insassen, die ihrer Kreativität nachgehen können.

Dass fast alle der anderen Akteure ehemalige Insassen des Sing Sing-Gefängnisses sind, ist nichts Geringeres als ein Casting-Coup. Wenn man diesen Fakt nicht kennen würde, würde man zu keiner Sekunde infrage stellen, ob es sich hier um voll ausgebildete Schauspieler handelt. Gerade Clarence Maclin und Jon-Adrian Velazquez, aber auch die nuanciert porträtierten Nebenfiguren rund um David Giraudy, Patrick Griffin oder Mosi Eagle, spielen absolut überzeugend auf und verleihen der Geschichte eine große Authentizität.

Kammerspiel mit großer Wirkung

Nur selten werden die Proberäume verlassen, doch wenn, dann lässt sich erahnen, dass auch die Insassen in ihrer kleinen Theater-Bubble unterwegs sind. Immer wieder wird die Brutalität des Gefängnis-Alltags angedeutet und wenn die Protagonisten abends in ihren winzigen Zellen sitzen, macht sich eine Klaustrophobie breit, die im starken Kontrast zu den so frei wirkenden Kreativprozessen tagsüber steht.

Das mit nur zwei Millionen US-Dollar realisierte, auf 16-mm-Film und mit Naturlicht gedrehte Drama sieht darüber hinaus gleichermaßen authentisch wie auch hochwertig aus. Ein Kammerspiel, wenn man so will, in dem zu keiner Sekunde Langeweile herrscht, und das sich mit fortschreitender Laufzeit zu einem vielschichtigen, kraftvollen Drama entwickelt, das die Zuschauer:innen gleichermaßen betroffen wie hoffnungsvoll entlässt.

Fazit

8.1/10
Stark
Community-Rating:
Handlung 8/10
Schauspiel 8.5/10
Tiefgang 8/10
Emotionen 8/10
Visuelle Umsetzung 8/10
Details:
Regisseur: Greg Kwedar,
FSK: 12 Filmlänge: 107 Min.
Besetzung: Clarence Maclin, Colman Domingo, Dario Peña, David Giraudy, James Williams, Jon-Adrian Velazquez,

Sing Sing ist zurecht die erste große Überraschung des Jahres. Der Film-Underdog wartet mit einer berührenden, inspirierenden und nahbaren Geschichte auf und zeichnet in seiner recht kurzen Spielzeit extrem viele Nuancen und Persönlichkeitsfacetten der Figuren hinter Gittern. Das Ensemble rund um Colman Domingo brilliert und macht vor allem eins deutlich: Das beste Gegenmittel gegen Isolation und Hass ist die Gemeinschaft.

Artikel vom 25. Februar 2025

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