“Ich wurde so geboren”
Von der Wiege ins Gefängnis. Diese Linearität hätte sich Dahmer zu eigen machen können, um einen “Was passiert als nächstes?”-Plot zu erzählen. Stattdessen wissen wir schon relativ früh, was wann passieren wird. Die Eckpfeiler in Dahmers Geschichte werden bereits in den ersten Episoden gelegt; je weiter die Serie voran schreitet, desto mehr wird der Platz zwischen diesen Pfeilern gefüllt.
Rückblenden, Vorblenden und Perspektivenwechsel sind die Regel bei Dahmer. Den Showrunnern Ian Brennan und Ryan Murphy gelingt es, die Geschichte des Serienmörders wie ein Puzzle zu erzählen. Dahmers Motive, seine Motivation und seine Prägungen werden dadurch greifbarer, denn ein Gehirn denkt nicht linear. Erinnerungen fliegen uns zu, wann immer sie einen Grund dafür haben.
Evan Peters verkörpert Jeffrey Dahmer mit einer überzeugenden Passivität und Verletzlichkeit, doch fehlt Peters die beinahe kalkulierende, reptilienartige Präsenz, die Dahmer in seinen Interviews so bedrohlich erscheinen lässt.
Dabei beantwortet die Serie die eine, brennende Frage nicht wirklich: Wurde Jeffrey Dahmer so geboren? Trotz tausender kleiner Antworten bleibt die große Antwort Interpretationssache, und das ist auch gut so.
Der Nervenkitzel
Was der Serie durch die mosaikartige Erzählweise verloren geht, ist die übergeordnete Spannung. Viel mehr ist die Verbindung zwischen den Folgen ein gewecktes Grundinteresse an der Person Dahmer. Dabei schafft es auch jede einzelne Folge, eine eigene Dramaturgie aufzubauen, eine eigene, kleine Geschichte zu erzählen.
Eine Ausnahmefolge ist beispielsweise Verstummt, die die Perspektive des taubstummen Models Tony (Rodney Burford) einnimmt, eines von siebzehn Opfern Dahmers. Die Folge präsentiert sich zum Großteil ohne Ton, doch die wahre Stärke dieses Kapitels liegt darin, dass wir eine emotionale Bindung zu einem Opfer aufbauen und Dahmers Modus Operandi aus einer hilflosen, schweißtreibenden Sicht miterleben.
Auch die darauffolgende, siebte Folge Kassandra wechselt die Perspektive zu Dahmers Nachbarin Niecy, stark gespielt von Glenda Cleveland, die als einziger Mensch einen echten Verdacht gegen Dahmer hegt. Unzählige Notrufe werden von der Polizei abgewiesen und es ist beinahe unerträglich, diese Inkompetenz – oder gar diesen Rassismus – mitzuerleben. Niecys schlaflose Nächte, die durch Stöhnen und Sägen aus der Nachbarwohnung geprägt sind, schaffen eine echte Gänsehaut.
So blutrünstig ist die Serie
Tatsächlich nicht so blutrünstig, wie von einigen Rezipienten behauptet. Dahmers Taten sind derart grausam und pervers, dass sie überhaupt keine drastische Darstellung benötigen. Ein Großteil der Scheußlichkeiten spielt sich nur im Kopf der Zuschauer ab, getriggert durch subtile Implikationen. Echten Gore sehen wir in Dahmer nur wenig. Man könnte beinahe sagen, dass die Geschichte für die Opfer so würdevoll wie möglich inszeniert wurde.
Gut und Böse
In den letzten Folgen wirft die Serie große Fragen auf: Es geht um Religion, Vergebung, Gut oder Böse. Dahmer sucht Vergebung beim Herrn, seine Nachbarin Niecy beichtet ihre Rachegelüste, einer von Dahmers Mithäftlingen möchte Dahmer in der Hölle brennen sehen. Jede einzelne gläubige Person aus Dahmers Umfeld nutzt den Glauben als Ventil, um das Geschehene zu verarbeiten. Die Subjektivität, mit der die einzelnen Personen ihre Religion deuten, steht im krassen Gegensatz zu den absoluten Aussagen, die jene Religion eigentlich treffen möchte. Letztendlich lässt sich selbst bei so grausamen Menschen wie Dahmer keine Aussage über Gut oder Böse treffen. Hier leistet die Serie eine Erarbeitung, die keinesfalls religionskritisch, sondern viel mehr zutiefst menschlich und empathisch ist.
Top Darsteller und alles andere auch richtig gemacht. Nicht für jeden das Richtige.