Kritik: Gänsehaut um Mitternacht – Staffel 1
Trauer und Schauer im Hospiz
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Die frischgebackene High School Absolventin Ilonka, hat eigentlich ein nahezu perfektes Leben: Hervorragende Schulnoten, gute Freunde und eine vielversprechende Perspektive für die Zukunft.
Durch eine plötzliche Diagnose wird ihr dies aber beinahe buchstäblich aus der Hand gerissen: lonka ist todkrank und hat nur noch wenige Monate bis Jahre zu leben. Sie entschließt sich, in Hoffnung auf eine Heilung, ihre Zeit in Brightcliffe zu verbringen, einem Hospiz für Jugendliche.
Nachdem sie schnell Anschluss findet, muss sie kurze Zeit später feststellen, dass Brightcliffe kein gewöhnliches Hospiz zu sein scheint und der Ort seine ganz eigene Vergangenheit hat.
Und dann wäre da ja auch noch der „Midnight Club“, ein Zusammenschluss der todkranken Patienten, dem sich Ilonka anschließt, die sich jede Nacht um Mitternacht in der Bibliothek treffen, um sich gegenseitig selbst verfasste Gruselgeschichten zu erzählen …
Gänsehaut um Mitternacht stellt die bisher vierte Serie dar, die aus der Zusammenarbeit von Netflix und Mike Flanagan entstanden ist. Nach den durchgehend qualitativen Highlights, die das Portfolio des Streaming Giganten bereicherten, wie dem großartigen und tieftraurigem Spuk in Hill House oder dem angsteinflößenden und nahezu spirituellen Midnight Mass, muss das neue Werk zwangsläufig in große Fußstapfen treten.
Flanagan hat sich mittlerweile, in seiner Rolle als einer der wichtigsten und versiertesten Regisseure und Autoren im Elevated Horror, in zahlreiche Köpfe eingebrannt, wie auch in meinen. Themen wie Trauer, Verlust und Vergebung sind beliebte Motive bei seinen Adaptionen, perfekt abgemischt mit nachvollziehbarem und tiefschürfendem menschlichem Drama. Und dazu immer eine gehörige Prise Horror, der so viel eleganter und feinfühliger inszeniert wirkt als bei vielen Genrekollegen.
Klar, Flanagan hat mit der ersten Episode von Gänsehaut um Mitternacht den Guiness World Record geknackt, der Horrorfans erst einmal ein wenig zurückschrecken lässt (näheres dazu in der “Nach dem Watch” Info Box), davon sollte man sich aber nicht täuschen lassen. Gerade dieses Unterfangen war beabsichtigt und sollte eher als Meta Kommentar auf das Genre verstanden werden. Denn wie angesprochen werden in Gänsehaut um Mitternacht, neben der gemächlichen Haupthandlung, immer mal wieder schön inszenierte Gruselgeschichten preisgegeben, die innerhalb der Serie nur erzählt werden, für uns als Zuschauer aber wie kleine Kurzfilme präsentiert werden.
Die zahlreichen Kurzgeschichten, die für Gänsehaut um Mitternacht als Vorlage dienten, stammen allesamt aus der Feder von Christopher Pike. Diese werden zwar beinahe immer an dieselbe Stelle der Episoden verfrachtet, irgendwo im letzten Drittel, sorgen aber nie für Langeweile. Im Gegenteil, die Geschichten waren für mich das Highlight jeder Folge. Das liegt zum einen an der schönen Abwechslung, die uns geboten wird (als erstes bekommt man ein überbordendes, beinahe lustiges Jump Scare Massaker geboten, in den nächsten Folgen einen Zeitreise Gehirnzwirbler,) zum anderen an der liebevollen Umsetzung der jeweiligen Geschichte.
Das Voice Over setzt immer die richtige Stimmung und die Figuren innerhalb der Geschichten sind zudem schauspielerisch besetzt, wie die Mitglieder des Midnight Clubs. Das ist nicht nur amüsant, da es einige Doppel und Dreifach Rollen zu bestaunen gibt, sondern auch ein essenzieller Handlungsbogen für die gesamte Serie. Jeder der Jugendlichen gibt innerhalb der Geschehnisse eine Geschichte zum Besten, jede Geschichte hat einen persönlichen Bezug zu dieser Person, manchmal eindeutiger und manchmal eher weniger.
Dadurch werden, im Anbetracht der Kernhandlung, einige dieser Kurzfilme zu einer unglaublich tragischen Angelegenheit, da es immer noch um eine Serie geht, deren Mittelpunkt sterbende Jugendliche sind, die versuchen, ihr Schicksal mit Kreativität zu verarbeiten und ihre letzten Momente auf der Erde so angenehm wie möglich zu gestalten. Immer mal wieder fallen einem als Zuschauer die Gemeinsamkeiten der Figuren aus den Gruselgeschichten und den wirklichen Personen auf und bewirken oftmals eine melancholische Erkenntnis. Dieser Aspekt ist sorgfältig und spannend geschrieben, macht jedes Mal Lust auf mehr und hält jeden Charakter lebendig und nachvollziehbar.
Hier geht die Mischung aus temporeichen, spannenden Geschichten und einer menschlichen, gefühlvollen Botschaft wieder voll auf, aufgrund der gut geschrieben Figuren und der starken Umsetzung dieser Kurzfilme.
Nur ist da ebenfalls die Haupthandlung, welche gut 70 Prozent der Zeit in Anspruch nimmt.
Die Rahmenhandlung, welche den Kurzgeschichten das Gerüst bietet und sich hauptsächlich mit den Geschehnissen in Brightcliffe beschäftigt, ist leider nicht ganz so überzeugend. Klar, Flanagan-typisch brilliert auch hier der Hauptcast, der gerade in den ruhigen, persönlichen Momenten abliefert. Hier ist Gänsehaut um Mitternacht eindeutig besser als Drama statt als Horror und verwendet Horrorelemente nur sehr sparsam. Und wenn doch, dann ist es nicht unbedingt die Neuerfindung des Rads.
Generell wurde mir nach weiterem Schauen bewusst, dass sich die Serie deutlich an Jugendliche richtet und einem erfahrenen Genregucker sehr viele Tropes und Kniffe bekannt sein werden. Das mag für einen Neuling, und so ist es auch sicher gemeint, eine ganz frische Erfahrung sein, kommt aber für mich beispielsweise nie wirklich über das Mittelmaß hinaus. Einige Entwicklungen, die in den letzten Folgen enthüllt werden, sah ich bereits in der ersten Folge kommen, andere Schreckmomente waren zu berechenbar.
Das ist nicht unbedingt schlecht, wenn man mit der richtigen Erwartung an die Serie herangeht. Der Horroraspekt ist sehr zurückgefahren, sämtliche Elemente wirken wie eine Einstiegsdroge für Genreneulinge. Alles bekannt, aber trotzdem schön umgesetzt.
Die Handlung ist nicht unbedingt hochspannend, hält aber mit wenigen Brotkrumen das Interesse stetig aufrecht.
Der dramatische Aspekt ist im Gegensatz dazu aber herrlich differenziert und hervorragend. Jede Figur bekommt genug Raum in Anbetracht ihrer Ausnahmesituation, ihr Innenleben auszudrücken, sei es in Form von toll geschriebenen Dialogen, den wirklich unterhaltsamen Kurzgeschichten oder ihrem nuancierten Auftreten. Dadurch wird vielen problematischen Themen eine Bühne gegeben, über die es sich lohnt, auch schon in jüngeren Jahren nachzudenken, gerade, wenn es so einfühlsam und zart inszeniert ist.
Gänsehaut um Mitternacht ist dementsprechend wieder keine leichte Kost und reiht sich mühelos in Flanagans Werk ein. Für Fans seines Kosmos gibt es auch einige Gastauftritte von alteingesessen Kollaborateuren, die ich aber nicht vorwegnehmen möchte.
Zudem wird im Staffelfinale noch eine zweite, mögliche Staffel angeteasert, was das Ende der bisherig erschienenen Staffel ein wenig unfertig wirken lässt. Bleibt abzuwarten, ob Netflix hier grünes Licht gibt. Ich hätte Interesse und bin zuversichtlich, dass Flanagans neustes Baby in einer möglichen Fortführung Stärken ausbauen und Schwächen tilgen könnte.
Eine gute Horrordrama Serie, die aber im Vergleich zu Flanagans vorherigen Werken ein anderes Zielpublikum bedienen will und für mich dadurch ein wenig hinter den Erwartungen zurückbleibt. Das menschliche Drama und das Schauspiel sind grandios, die Genrespitzen leider zu bekannt und unaufregend. Dafür wissen die zahlreichen adaptierten Kurzgeschichten zu überzeugen und sind mit der talentierten, jungen Schauspielerriege das absolute Highlight. Wer Lust auf einige Stunden leichten Grusel hat und die Taschentücher bereitstellen möchte, kann sich auf eine emotionale und leicht schaurige Achterbahn gefasst machen. Für mich ein Ticken schwächer als sämtliche Flanaverse- Serien, dennoch mehr als sehenswert. Gerade um diese Jahreszeit.
Artikel vom 1. November 2022
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