Kritik: Green Border
AN DER GRENZE DER HUMANITÄT
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Ein Flugzeug landet in Minsk, die Passagiere sind auf dem Weg nach Europa. Die syrische Familie um Vater Bashir (Jalal Altawil) will nach Schweden, die Afghanin Leila (Behi Djanati Atai) ist auf dem Weg nach Polen. Die legale Einreise ist Ihnen verwehrt, also bleibt die „Grüne Grenze“ Europas. Jenseits des Stacheldrahts, auf polnischer Seite angekommen, wähnen sich die Flüchtenden in Sicherheit. Doch werden sie schnell vom Grenzschutz aufgegriffen. Statt Asyl kommt es zum Pushback zurück nach Belarus. Das lebensgefährliches Hin- und Herschieben der Hilfsbedürftigen wird zur unmenschlichen Zwischenhölle ohne Ausweg. Grenzschützer Janek (Tomasz Włosok) wird durch die tägliche Arbeit zunehmend traumatisiert und Anwohnerin Julia (Maja Ostaszewska) findet einen Weg, Menschen in Not zu helfen.
Ein Mann liegt im Wald. Allein. Sein Bein ist gebrochen, die Kleidung durchnässt, ein Weiterkommen unmöglich. Außer einem Rucksack mit ein paar Habseligkeiten hat der Mann nichts, was ihn warmhält. Bis zum Sonnenuntergang bleiben noch ein paar Stunden, dann wird die kalte Oktobernacht durch die Bäume kriechen. Wie ist der Mann hier gelandet? Was treibt er in der polnisch-belarussischen Grenzregion, tausende Kilometer von seiner Heimat entfernt, ohne jegliche Ausrüstung? Green Border möchte diese Fragen nicht beantworten. Der Film blickt wenig auf Hintergründe, sondern fokussiert den Vordergrund. Das ist sowohl Stärke als auch Schwäche.
Die steigenden Fluchtbewegungen nach Europa beschäftigen Politik und Zivilgesellschaft nun seit einem Jahrzehnt, kaum ein Bereich des öffentlichen Lebens, in den dieses Thema nicht ausstrahlt. Häufig sind die Geschichten, Fluchtrouten und Motivationen der Menschen komplex. Das Drehbuch erkennt dies bereits in der Eröffnungsszene: ein syrischer Junge spricht eine afghanische Frau an – und muss feststellen, dass sie ihn nicht versteht. Auch wenn wir wenig über sie erfahren, spüren wir, dass die Gruppe von Flüchtenden eine heterogene Gemeinschaft ist – es gibt nicht „Die Flüchtlinge“. Sie sind Träumer und Schachfiguren in einem Machtspiel, Waffen in einem „hybriden Krieg“, wie der polnische Ministerpräsident sagte. Die Gesamtsituation überfordert den Kontinent, doch die Seh-Erfahrung von Green Border macht schmerzlich bewusst: Hintergründe, despotisches Kalkül und Weltpolitik hin oder her: hier liegt ein Mensch mit gebrochenem Bein allein im Wald – was tun?
Die Hintergründe, Lukaschenkas perfides Machtpoker und Polens großmäuliges Auftreten, bleiben außen vor. Ähnlich wie das Seenotrettungs-Drama Styx (2018) ist Agnieszka Hollands Film eher Katastrophenfilm als dokumentarische Polit-Tragödie. In den Vordergrund rücken die Menschen, der Wald, das Rauschen der Tannen, das Geräusch von nicht für die Wanderung geeigneten Schuhen, die im Matsch stecken bleiben. Kalter Regen ist der Feind, noch schlimmer jedoch die Handy-Anzeige: „Battery low“. Besonders nachhaltig wirkt die Filmerfahrung jedoch, wenn wir uns von der Grenze Richtung Inland bewegen.
In der polnischen Grenzregion hört der Film genau hin: was dringt aus dem Wald hinaus? Wie sprechen die Menschen im Dorf über die Lage? Was macht das mit ihnen? Holland geht harsch mit ihren Landsleuten ins Gericht, jedoch nicht ohne ihnen den Puls zu fühlen. Ist da noch ein Lebenszeichen, eine Spur von humanitärem Willen, den Menschen zu helfen? Die polnischen Figuren bieten unendliche Identifikationsmöglichkeiten. Von den Hardcore-Aktivist:innen, zu helfenden Pragmatiker:innen, gleichgültiger Zivilbevölkerung und sadistischen Militärs. Als Zuschauer:in wird man herausgefordert, sich selbst zu verorten. Als die Helferin Julia eine Freundin bittet, ihr ein Auto zu leihen, schwankt diese – was, wenn das Auto als „Flüchtlings-Taxi“ konfisziert wird? Humanitäre Hilfe hat viele Möglichkeiten aber auch Kosten. Wir müssen entscheiden, welche wir bereit sind zu tragen.
Die kalten schwarz-weißen Bilder findet ausdrucksstarke Momente. Die Eröffnung im Flugzeug Richtung Minsk ist der letzte friedliche, hoffnungsvolle Moment, fortan ist jede Einstellung von Stress und Angst geprägt. Macho-Gehabe und staatliche Vorgaben treiben die Grenzschützer:innen voran. In einem Verantwortungs-Ping Pong schieben sie Menschen wie radioaktive Abfälle immer wieder über die Grenze, bloß weg. Die Flüchtenden enden in einem unüberwindbaren Limbus. Im Grenzbereich zwischen Stacheldraht drohen sie zur formlosen Masse zu werden. Filme wie Green Border personalisieren diese Masse, geben Namen und Gesichter, zeigen Wunden und Blasen an den Füßen, Misshandlung und Trauma. Selbst wenn die drastische Darstellung an die Schmerzgrenze geht: Wegsehen ist keine Option mehr.
Der Film provozierte in Polen eine harsche Reaktion, von antinationaler Einstellung und Propaganda war die Rede. Hollands Film ist unbestreitbar subjektiv, wie sollte es anders sein. Hier werden individuelle Geschichten erzählt, die dennoch so ähnlich stattgefunden haben, stattfinden. Zum Einschätzen der Gesamtsituation reicht diese Auswahl an Schicksalen freilich nicht. Zum Ende hin zieht ein Epilog dann sogar zynische Parallelen zum (deutlich humaneren) Umgang mit ukrainischen Kriegsflüchtlingen im Jahr 2022. Ob hier Äpfel mit Birnen verglichen werden, ist diskutabel. Jedoch wird auch nach diesem Epilog niemand gefühlskalt den Filmsaal verlassen und darum geht es den Filmemacher:innen. Den Fokus weg von den Hintergründen, Diskussionen und politischen Planspielen zu verschieben. Und stattdessen den Blick scharf zu stellen auf den Mann, der mit gebrochenem Bein auf feuchten Tannennadeln liegt, während es Nacht wird.
Der Film nähert sich seiner hochkomplexen Thematik auf emotionaler Ebene. Die Hintergründe und Strippenzieher bleiben ungenannt, ein schmerzlicher Mangel. Doch der Fokus auf die Vielzahl der Akteure im polnisch-belarussischen Grenzgebiet wird zu einer konstruktiven Herausforderung für Zuschauer:innen. Die Situation der Flüchtenden ist brutal, die Grenzschützer:innen gewissenlos und manipuliert, die Helfenden zerrissen zwischen dem Willen zu helfen und ihren Möglichkeiten. Diesen Film als Hollands Attacke auf die (abgewählte) polnische Regierung zu lesen wäre zu einfach. Es ist ein Appell an uns alle.
Artikel vom 5. Februar 2024
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