Kritik: Die Magnetischen
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Auf der Mittelwelle sind sie Stars: Die Brüder Jerôme (Joseph Olivennes) und Philippe (Thimotée Robart) betreiben im Jahr 1981 vom Dachboden aus einen Piratensender und senden New Wave und jugendliche Lebenskraft. An diesen Abenden scheint die Welt ihnen zu gehören. Jerôme bleibt am Lebenstraum der ewigen Jugend hängen, doch Philippe wird spätestens mit der Einberufung zur Armee in die Realität gezogen. Er bricht auf zum Wehrdienst in Berlin, doch muss Marianne (Marie Colombe) zurücklassen. Die Musik, die Liebe zu Marianne und die Beziehung zu seinem Bruder geraten in diesen Jahren des Erwachsenwerdens unter Spannung.
Wer hört heute noch Radio? Bis ins Auto und in die Küche sind die Bluetooth-Speaker mit individualisierten Playlists gekrochen, selbst im Supermarkt läuft auf den Einkauf zugeschnittene Musikbeschallung. Da ist es kaum noch nachvollziehbar, welche Magie dem Medium Radio einst innewohnte. Die beiden Brüder Jerôme und Philippe sind Eingeweihte in diesem Zauber und schicken mit ihrer Radioshow ihren Lebensgeist in den Äther. Das sind nicht nur die tonnenschweren Depri-Tunes des Post-Punk und New Wave sondern auch die Unsicherheit an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Die Radiosendung öffnet die emotionalen Ventile der Clique und all der Druck, der auf die jugendliche Seele drückt, entlädt sich, wenn sich die Nadel auf das Vinyl senkt und Joy Division singt: Here are the young men, the weight on their shoulders. Das ist nicht subtil, jedoch stimmig.
Vieles meint man, schon gesehen zu haben. Von der ersten Liebe, der man bei Getränken und Musik näher kommt, bis zur überschäumenden Party mit den besten Freunden gibt es hier wenig zu sehen, was die bekannten Pfade verlässt. Doch wird die Geschichte großartig erzählt und jede Episode fügt sich perfekt zu einem stimmigen Gesamtbild.
Die Rahmenhandlung hält die episodenhafte Geschichte gut geordnet. In einer Rückschau erzählt Protagonist Philippe seinem Bruder seine Version der gemeinsamen Geschichte. Diese rückwärtsgerichtete Perspektive eröffnet neue Erzählfenster für das Drama. Jeder durchgefeierte Abend und jeder intime Moment steht unter dem Stern, dass es Philippes Version ist, eine bisher vernachlässigte, vielleicht nie so geschehene Erzählart. Jedem Moment wohnt eine Frische inne, als würde er, von Philippe nacherzählt, zum ersten mal stattfinden. Jeder Song fühlt sich an, als würde man ihn zum ersten mal hören.
Philippe prägt den Film, nicht als Figur, sondern als Erzähler. Die Dialoge der Charaktere sind sachlich, selten wichtig, doch sind es Philippes begleitende Monologe, welche die Welt und alles, was sich darin abspielt, entschlüsseln. Die Party am Vorabend von Philippes Einzug ist eine ekstatische, lebensbejahende Feier, bis Philippe uns an seine Gedanken teilhaben lässt und das Stimmungsbild auf den Kopf stellt: „Eine Abschiedsparty ist eigentlich eine Party für die, die bleiben.“ Teilweise schafft es der Film, Figuren in nur einem, scharf formulierten Satz zu erklären, wie z.B. den Vater der Brüder, dessen gesamte Tragik im Schlagwort „Alphamännchen“ Ausdruck findet.
Optisch macht der Film, trotz des banalen Settings (Kleinstadt, Kaserne, Ostberlin) beeindruckende Sprünge und holt aus den Sets alles heraus. Die Bildgestaltung findet immer den richtigen Winkel, die Distanz zu den Figuren ist immer wohlüberlegt gewählt und hält die emotionale Spannung der Bilder aufrecht. Einige Sequenzen sind schlicht phänomenal, viele andere bestechen durch ein perfektes Auge für die Schönheit der simplen Momente: stillstehende Menschen in Momenten des Schocks, Barbesucher in überschäumender Freude, ein Friseurbesuch mit Folgen.
Der Look der 1980er ist in der Kostüm- und Setgestaltung angenehm dezent, dafür versuchte man scheinbar, in der digitalen Nachbearbeitung des Bildes den körnigen Look einer 35mm-Projektion zu imitieren. Leider bleibt dieser Effekt inkonsistent und damit eine Spielerei. Auch sind Philippes seltsame Tonstudio-Frickeleien Filmmomente, die einen eher stirnrunzelnd als begeistert zurücklassen, doch schmälern sie kaum den Genuss dieses kleinen Kinoerlebnisses.
Der internationale Erfolg für Die Magnetischen wird wohl ausbleiben und auch der sogenannte „Rewatch-Value“ hält sich in Grenzen, doch sorgt der Film für viele schöne und einige gar großartige Kinomomente. Der etwas generische Coming-of-Age-Story fehlen die prägnanten Momente, doch sendet der Film dennoch eine wichtige Botschaft: Vincent Maël Cardona ist ein Regisseur mit klarer, wunderschöner Handschrift, den es im Auge zu behalten gilt.
Artikel vom 10. August 2022
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