8.1/10

Kritik: Eismayer

Kontrolle in Spind, Kopf und Körper

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Genres: Drama, Romanze, Startdatum: 01.06.2023

Interessante Fakten für…

  • Regisseur David Wagner stoß im Jahr 2014 zufällig auf die wahre Geschichte von Charles Eismayer und verarbeitete sie in einem Drehbuch. Als junger Rekrut hatte er selbst bereits vom berüchtigten Ausbilder Eismayer gehört.
  • Das Bundesheer verfasste für das Presseheft des Films ein Statement, in dem klargestellt wird, dass die „Ausdrucksweise der Protagonisten und die gezeigte Ausbildungsmethodik nicht dem aktuellen Selbstverständnis des Bundesheeres entsprechen.“

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#Kinogänger #Klassiker #Trashfan

Darum geht’s

Ein neuer Jahrgang Rekruten wird in der Maria Theresien-Kaserne willkommen geheißen. Doch wer der Garde von Vizeleutnant Charles Eismayer (Gerhard Liebmann) zugeteilt wird, hat bald nichts mehr zu lachen. Psychischer und physischer Druck soll die jungen Soldaten formen. Kadett Mario (Luka Dimić) lässt den Kopf nicht hängen und gibt alles in der Ausbildung, doch sorgt auch für Trubel, denn er steht offen zu seiner Homosexualität. Ausbilder Eismayer treibt er mit seiner direkten Art zur Weißglut, dieser will das Thema Homosexualität gänzlich aus der Truppe verbannen – denn, was niemand weiß: Eismayer selbst ist schwul.

Männlicher Kosmos

Lockere Sprüche, gute Laune, unsicheres Auftreten, fast-kindliche Gesichtszüge. So, wie uns die Hauptfiguren zu Beginn von David Wagners Langfilmdebut begegnen, bleiben sie nicht lang bestehen. Im Wehrdienst beim Österreichischen Bundesheer gibt es wenig zu lachen, erst recht nicht für die Garde unter Vizeleutnant Charles Eismayer. Nach wenigen Szenen zeichnet sich das Bild eines Despoten, der genauso viel Wert auf Ausbildung wie auf psychischen Druck setzt. Da wird nachts um zwei zur Spind-Kontrolle geweckt, Widerrede mit 60 Liegestützen bestraft und so lange auf dem Hof exerziert, bis aus einer Gruppe Individuen eine gleichgeschaltete Truppe entstanden ist. Eismayer ist ein Sadist, oder, wie Rekrut Mario früh von einem Kameraden gewarnt wird: „Der fickt dich.“

Mit seiner unbedachten Äußerung ist Marios Kollege nah dran an der Wahrheit: Eismayer ist homosexuell, versteckt dies jedoch. Einerseits vor seiner Ehefrau, andererseits vor dem Heer. In drastischen Szenen zeichnet der Film die Armee als Gemeinschaft von unbeschränkter Männlichkeit, in der homophobe Witze über das gemeinsame duschen an der Tagesordnung sind und Männern, die bei Klimmzügen versagen, zu „Schwuchteln“ werden.

Kontrolle und Freiheit

Dieser Spagat zwischen Drill und verheimlichtem Sexualleben zermürbt Eismayer. Nach starken Hustanfällen spuckt er Blut ins Taschentuch – vom jahrelangen Rauchen oder Anschreien der Kadetten? Als Gegenbild stellt der Film ihm Mario zur Seite, ein junger Rekrut, topfit und unbeeindruckt von Macho-Gehabe seiner Kameraden. Die Dynamik zwischen Eismayer und Mario ist das Fundament des Films. Getragen von zwei talentierten Schauspielern manövrieren die beiden Figuren durch Höhen und Tiefen der Geschichte. Mario macht keinen Hehl aus seiner sexuellen Orientierung und konfrontiert seinen Ausbilder offen damit, welchen er damit zu weiteren Wutanfällen, sprich Kontrollverlusten, bringt.

Eismayer bläut dem Rekruten seine Maxime ein: „Kontrolle! Im Spind, im Kopf, im Körper“. Doch Mario weigert sich, seine Identität derart zu verformen. Er scheint etwas zu wissen über Eismayers innere Unruhe. Eben jener Kontrollzwang, der nicht nur in der Kaserne, sondern in jeder Faser des Vizeleutnants steckt, schnürt ihm die Luft ab. In den Figuren Eismayer und Mario bildet der Regisseur Stellvertreter eines Generationenkonflikts. Für den Älteren ist ein Coming-Out absolut unvorstellbar, mit dem Jüngeren zieht eine Energie ein, die auf Wandel hoffen lässt.

Männlichkeit als Bürde

Die Kameraführung ist streng, doch elegant und fängt sinnliche Bilder ein, die in vielen Momenten die Brutalität des Augenblicks vergessen lassen. Dabei bleibt es doch immer sachlich, nichts wird künstlich verpackt und so ist Eismayer ein ehrlicher Film. Doch ist es ebenso ein männlicher Film. Ein Film, der fast vollständig ohne Frauen erzählt wird und mit der Armee ein Milieu abbildet, welches kaum männlicher sein könnte. Ähnlich wie Erbarmungslos oder Lohn der Angst erzählt das Werk von der Bürde des Mann-Seins, dem Druck der Klischees und dem Hahnenkampf. Ein Milieu, in dem eigentlich alle in Ruhe gelassen werden wollen, aber sich durch den Zwang ihrer Rolle behaupten müssen.

Der Ausbilder Eismayer als hypermaskuliner Schreihals, der seine Homosexualität verstecken muss, ist eine tragische Figur. Plötzlich muss der Ausbilder vom Kadetten geführt werden. Mario eröffnet ihm die Möglichkeit, seinem eigenen Leben näher zu kommen. Mit Witz, Offenheit, Integrität. Das ist dermaßen berührend, dass man als Zuschauer:in fast gar nicht wahrnimmt, wie campy das Ende des Films eigentlich ist, doch den unglaublich überzeugenden Schauspielern ist man zu diesem Zeitpunkt so nah, dass man sich mit ihnen über jede Berührung, jedes liebe Wort und jede gemeinsame Minute freut.

Fazit

8.1/10
Stark
Community-Rating:
Schauspiel 9/10
Visuelle Umsetzung 8/10
Emotionen 8/10
Atmosphäre 7.5/10
Charaktere 8/10
Details:
Regisseur: David Wagner,
FSK: 12 Filmlänge: 87 Min.
Besetzung: Gerhard Liebmann, Luka Dimić,

Der Publikumsliebling des diesjährigen Max Ophüls-Preises wird von zwei großartigen Hauptdarstellern getragen, die sich wie zwei Magneten abstoßen und wieder anziehen. Eismayer und Mario entstammen zwei scheinbar unvereinbaren Generationen und lernen, sich in einem tragisch-maskulinen Umfeld zu behaupten. Keine Person, die jemals ernsthaft geliebt hat, wird von diesem Film unberührt bleiben.

Artikel vom 11. Juni 2023

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