Kritik: Die Nickel Boys
AUGENZEUGEN DER GRAUSAMKEIT
AUGENZEUGEN DER GRAUSAMKEIT
Der Fußweg zu seiner Schule wäre ein weiter gewesen, als der schwarze Teenager Elwood an einem frühen Morgen der 1960er Jahre zu einem fremden Mann ins Fahrzeug steigt, um sich ein paar Kilometer des Laufens zu ersparen. Alles erscheint harmlos: Der ebenfalls schwarze Fahrer ist zugewandt und kommt aus der Prahlerei für sein neu erworbenes Auto gar nicht mehr heraus. Doch plötzlich flackert das Blaulicht im Rückspiegel und die Polizei zieht den Wagen kurze Zeit später aus dem Verkehr. Das Auto stellt sich als gestohlen heraus und Elwood wird aus rassistischen Motiven der Mittäterschaft beschuldigt. Wenig später landet der Junge in der erbarmungslosen Besserungsanstalt Nickel Akademie.
Die Nickel Boys basiert auf dem gleichnamigen, mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten, Roman des Schriftstellers Colson Whitehead. Mit seinem Roman verarbeitet der Autor die wahre Geschichte der Florida School for Boys innerhalb eines fiktionalen Rahmens. Die historische Reformschule existierte von 1900 bis 2011 und wurde erst 2009 im Zuge einer umfassenden Untersuchung des jahrelangen rassistischen Missbrauchs und Grausamkeit beschuldigt. In seinem Spielfilmdebüt sucht Dokumentarregisseur RaMell Ross nun nach neuen Perspektiven, um den die Romanvorlage und dessen Geschichte filmisch aufzuarbeiten.
Dabei wird die Formulierung „neue Perspektiven“ zum wesentlichen Merkmal des Filmes, denn Ross verzichtet auf eine herkömmliche Inszenierung und erzählt den kompletten Film auf der Ego-Perspektive. Dies klingt zunächst nach einer Spielerei, die Erinnerungen an den schwindelerregenden Action-Brecher Hardcore Henry weckt. Doch Die Nickel Boys schlägt eine vollkommen neue Richtung ein. In intimen und wunderschön gefilmten Bildern erzählt der Film das Innenleben von Hauptfigur Elwood ein und zeichnen ein beispiellos persönliches Bild der Figur auf die Leinwand. So widmen sich die ersten 5–10 Minuten ausschließlich einer gefühlvollen Monate rund um Elwoods Leben: ein Blick in den blauen Himmel unter einem blühenden Zitronenbaum, das gemeinsame Schmücken der Weihnachtstanne oder eine Kletterpartie auf dem Spielplatz – selten nimmt sich ein Film so viel Zeit, um in das Leben der Hauptfigur einzutauchen.
Doch diese Zeit braucht es. Wo wir als Zuschauer:innen darauf konditioniert sind, uns mit dem Gesicht eines/einer Filmheld:in schnell zu identifizieren, so fehlt dieser Ankerpunkt in Die Nickel Boys. Für den größten Anteil des Filmes können wir Elwoods Gesicht nicht sehen, was sich zunächst ungewohnt anfühlt. Doch je weiter die Geschichte voranschreitet, umso mehr entfaltet die Inszenierung ihre einzigartige Wirkung. Die Ego-Perspektive verleiht der Geschichte der Nickel-Akademie eine erschreckend radikale Subjektivität und zwingt das Publikum wortwörtlich dazu hinzuschauen. Denn sobald der Punkt erreicht ist, an dem die anfänglich schöne Nostalgie in eine harte Realität kippt, wird Die Nickel Boys zu einem tragischen, sowie harten Stoff.
In Zusammenarbeit mit einem sehr präzisen Drehbuch gelingt es dem Film durch seine Inszenierung eine Geschichte zu erzählen, die sowohl emotional aufgeladen ist, als auch kühl und beinahe rational auf die Historie des Rassismus blickt. Die Nickel Boys wird euch zutiefst berühren und gleichzeitig durch eine Bildsprache beeindrucken, die zu keinem Zeitpunkt bewusst auf die Tränendrüse drückt, sondern schlicht und weg ungefiltert hinschaut. Der Film ist damit ohne Frage keine leichte Kost, aber eine der einzigartigsten Geschichten des Jahres, die ihr in der Weise noch nicht gesehen habt.
Nach Die Nickel Boys wundert es nicht, dass die Wurzeln von Regisseur RaMell Ross im Dokumentarfilm stecken. So zeichnet sich sein Spielfilmdebüt ebenfalls durch eine beobachtende Natur aus, die durch die einzigartige Inszenierung einen kühlen Blick auf wahre Begebenheiten wirft. Und doch steckt in seinem Film, der Geschichte und den malerischen Bildern, die er dafür fand, unfassbar viel Gefühl und Sensibilität. Ein fantastisches Regiedebüt, das Seinesgleichen sucht.
Artikel vom 21. März 2025
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