Kritik: Drive My Car
VERSTEHEN WIR UNS?
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Dem erfolgreichen Regisseur Yūsuke Kafuku (Hidetoshi Nishijima) wird der Boden unter den Füßen weggezogen als er feststellt, dass seine Frau ihn betrügt und diese kurz darauf verstirbt. Erst zwei Jahre später beginnt er, sich seinen Gefühlen zu stellen. Beim Inszenieren eines Theaterstücks, in dem jede:r Schauspieler:in eine andere Sprache spricht, muss Kafuku zusammen mit dem Ensemble lernen, wie wir uns gegenseitig verstehen können, wenn die Sprache versagt. Er und seine wortkarten Fahrerin Watari (Tōko Miura) erkunden, wie wir Menschen uns selbst und andere kennenlernen können.
Wenn uns der Lockdown eines gelernt hat, dann zu warten, innezuhalten, still zu sein. Achtsamkeit und Meditation erleben Popularität in unserer beschleunigten Zeit. Einer der wichtigsten Wege zum Ziel ist es, sich zu lösen. Von Erwartungen und dem Wunsch, etwas richtig zu machen. So lange man sich auf die Meditation einlässt, macht man nichts falsch.
Drive my Car ist eine filmische Mediation und auch hier müssen wir loslassen. Die Story ist da, schwebt aber frei im Raum wie ein Heliumballon, wenn wir danach greifen, verschwindet sie wieder. Allzu klassische Erzählmuster und Klischees fehlen vollkommen. Auch vom verinnerlichten Wunsch nach Tempo müssen wir uns lösen, hier wird sich Zeit genommen, als ginge es nicht darum, einen Plot zu erzählen, sondern den Zuschauer in den Plot hineinzulassen.
Einer Atemübung gleich etabliert der Film einen langsamen, repetitiven Rhythmus: Einatmen – Ausatmen. Tagsüber begleiten wir Kafuku zur Theaterprobe. Menschliche Emotionen werden geprobt, die Möglichkeiten der Kommunikation studiert. Einatmen. Abends, in unglaublich intimem Momenten, verarbeitet er mit seinem Umfeld alles, was ihm das Leben zuwirft. Ausatmen.
Das wiederkehrende „Ommmmm“ ist das Topos der Kommunikation. Wenn wir achtsam werden, stellen wir fest, dass es fast jede Szene des Films davon durchsetzt ist. Was wird gesagt, was bleibt unausgesprochen? Kafuku selbst ist Dompteur eines sprachlichen Experiments, in seiner multilingualen Theaterinszenierung verstehen sich die Schauspieler:innen gegenseitig nicht. Als Regisseur hält er die Übersetzung in der Hand doch wenn der Vorhang fällt und er zurückkehrt in die Realität, endet seine Welt dort, wo die Sätze seines Gegenüber enden. In einem herzerweichenden Versuch, seine verstorbene Frau im Diesseits zu halten, spielt er eine Tonaufnahme von ihr wieder und wieder ab.
Für einen Film, der Kommunikation zum Zentrum seiner Erzählung macht, scheint es zunächst hinderlich zu sein, Untertitel zu verwenden. Doch keine Angst an alle, die die untertitelte Fassung sehen. Sprache ist mehr als das gesprochene Wort. Fast so als wolle sie diese These beweisen, steht im Film eine stumme Darstellerin auf der Bühne und präsentiert ihren Text via Gebärdensprache – und schafft es, emotionale Nähe zu Ensemble und Regisseur zu erzeugen. Genauso fühlen auch wir uns angesprochen, egal ob es Japanisch, Mandarin, Englisch oder Koreanisch aus dem Lautsprecher spricht.
Die Schauspieler lassen uns Teil an ihrem Innersten haben, behalten sich jedoch meist eine undurchdringliche Aura wie einen Schutzpanzer zurück. Wie sie später selbst resümieren, ist es eine Lebensaufgabe, sich selbst kennenzulernen. Kafukus Frau Oto (Reika Kirshima) bleibt stets hinter einem undurchsichtigen Vorhang, wie auch Kafuku selbst feststellen muss. Der aufstrebende Jugendstar Takatsuki (Masaki Okada) füllt seine Rolle mit jugendlicher Kraft, die ihn einerseits zu größtem Talent verhilft, gleichzeitig aber fragen und straucheln lässt und zerstörerische Impulse weckt. Seine Nebenrolle zieht die Aufmerksamkeit auf sich, ein starker Einblick in das Leben eines liebenswürdigen, aber zerrissenen Jungstars.
Die Bildsprache steht der Körpersprache in nichts nach und entwickelt eine eigene Aussagekraft. Die Bilder sind klar komponiert und eröffnen die Mimik der Schauspieler:innen wie ein Buch. Ihre Position im Raum, ihre Nähe zueinander ist stets spürbar. Besonders die Momente der unfreiwilligen Mitfahrgelegenheit sind spürbar intim, als wäre die Kamera 1000 Meilen entfernt und nicht auf dem Rücksitz. In diesen seltenen Momenten erreichen wir den Punkt einer guten Meditation, an dem schwer ist zu sagen, ob eine, zehn oder zwanzig Minuten vergangen sind.
Ob sich dieses zeitlose, entrückte Gefühl auf gute drei Stunden dehnen lässt, ist individuelles Empfinden. Dass wir viele starke Szenen erleben dürfen, die gut verteilt sind, lässt sich nicht bestreiten. Fast keine ist überflüssig, dafür aber einige etwas zäh und lassen den roten Faden außer Sichtweite geraten. Zu häufig ist die Atmosphäre zu offen, um noch tiefer in die Emotionalität einzusteigen. Doch sind zwei Charaktere nah beieinander, am Bartresen oder im kirschroten Saab 900, scheint sich das Universum um sie zu drehen und die Zeit still zu stehen.
Zwar gibt es viel Zeit, doch auch viel zu erzählen. Die Figuren öffnen sich nur langsam, der Regisseur will sie nicht wie Austern knacken, sondern sanft öffnen, um die Perlen zum Vorschein zu bringen.
Drive my Car ist kein konkret handlungsgetriebener Film. Manche:r wird sich schwer tun und das ist sowohl verständlich als auch problemlos. Am Ende zählt hier weniger die Geschichte, sondern das individuelle Erlebnis, der Fluss an Gedanken, den der Film als Gesamtwerk anstößt. Zugegeben, zunächst hatte ich einen anregenden Kinoabend, war aber nicht überwältigt. Doch seitdem ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht an die Figuren und Szenen denke. Dialoge klingen nach, Momente hallen nach wie Träume und ich wünsche, ich könnte noch einmal in ihre Mitte treten und ihnen genauer zuhören, versuchen, sie noch mehr zu verstehen. Dabei sein, wenn sie über Kommunikation meditieren.
Wer sich Zeit nimmt, wird belohnt. Nach dem Abspann ist man voller Eindrücke, aber nicht überfrachtet. Der Film verteilt Dialoge, Gedanken und starke Szenen wie Saaten, die noch Tage später aufgehen – Drive my Car ist ein filmischer Slow Burner, welcher nachhaltig berührt. Es gibt dichter erzählte Dramen, die tiefer treffen; doch wenige, die sich dem Thema der menschlichen Kommunikation so sacht und kreativ annehmen.
Artikel vom 19. Januar 2022
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