6.7/10

Kritik: Europe

GEKOMMEN UM ZU BLEIBEN

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Genres: Drama, Startdatum: 10.03.2022

Interessante Fakten für…

  • Rhim Ibrir spielt eine Rolle, die ihr eigenes Leben wiederspiegelt. Sie selbst leider an Skoliose und ist nach Frankreich geflohen. Regisseur Philip Scheffner traf sie bei den Dreharbeiten zu seinem letzten Film Havarie.

Dokumentation ist das eine, Fiktion das andere. Doch dieser Film löst diese Grenzen auf und erzählt mit realen Darsteller:innen eine Geschichte vom Verschwinden. Warum das filmische Experiment einerseits glückt, andererseits aber nicht wirklich vom Hocker reißt, erfahrt ihr hier.

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#Kinogänger #Klassiker #Trashfan

Darum geht’s

Zohra Hamadi (Rhim Ibrir) ist aus Algerien geflüchtet. In Frankreich konnte sie sich ein neues Leben aufbauen, fand Arbeit und wurde durch eine OP und Reha endlich von ihrem angeborenen Rückenleiden geheilt. Nun fehlt nur noch der Nachzug ihres algerischen Ehemanns. Doch der Realitätsschock kommt per Post: Mit der Heilung ihrer Krankheit erlischt auch ihr Bleiberecht. Zohra verliert den Boden unter den Füßen und beginnt zu verschwinden – zumindest aus dem Filmbild. In Episoden, die ihrer Fantasie entspringen, sehen wir die Welt ihrer Träume: Eine Welt, in der sie bleiben und normal leben kann.

Filmisches Verschwinden

Das Tragische sichtbar machen ist nicht immer ganz einfach, vor allem, wenn es sich um eine persönliche Tragödie handelt. Für Zohra zerbricht durch die Ausreiseaufforderung der Eckpfeiler ihrer in Frankreich aufgebauten Existenz. Sie ist da, aber in Zukunft bitte nicht mehr hier. Legitim aber nicht mehr legal. Ab dem Zeitpunkt des entzogenen Bleiberechts verschwindet sie von Frankreichs Bildfläche. Regisseur und Drehbuchautorin machen diesen emotionalen Bruch zur Hälfte des Films durch zwei geniale Erzähltechniken erlebbar. Erstens: Rhim ist Zohra, Zohra ist Rhim. Dem Film ist ein Epilog vorangestellt, in dem wir einem kurzen Gespräch von Regisseur und Hauptdarstellerin lauschen. Laut Aussage von Rhim Ibrir unterscheidet sie „nichts“ von ihrer Figur. Damit ist eigentlich die Grundlage des fiktionalen Films aufgelöst, auf jeden Fall aber die Grundidee des Schauspiels. Rhim Ibrir “spielt” nicht. Sie hat nicht den Luxus, eine tragische Rolle wie eine zweite Haut abzuziehen, wenn die Kamera stoppt. Für sie gibt es keinen Drehschluss. Die Frau, die eine Geflüchtete mit ablaufendem Bleiberecht spielte, ist es auch im „echten Leben“.

Zweitens: Das „Verschwinden“ von Zohra wird filmisch vorweggenommen. Der Entzug der Aufenthaltserlaubnis verwehrt ihr die bürokratische Existenz. Der Film behandelt sie nun genau so: Eigentlich schon verschwunden, nicht mehr Teil des Systems. Die Mitte des Films lebt ohne Zohra, wir spüren, dass sie da ist, die Umwelt reagiert auf sie, andere Figuren sprechen mit ihr, doch wir können sie im Off weder sehen noch hören. In anderen Abschnitten lebt Zohra dann ohne die Welt. Völlig isoliert, der Rückweg in die französische Gesellschaft abgeschnitten. Sie tut das, was sie vermutlich am meisten wünscht: Sie versinkt im Boden. Ist da, ohne da zu sein – quasi schon im Untergrund.

Tagträume

Ihre Tagträume erzählen von den unendlichen Möglichkeiten eines Lebens. Verschiedene Szenen scheinen aus ihrer Fantasie entsprungen zu sein – Kehrtwendungen, in denen sie doch bleiben kann, ihr Mann zu ihr kommen kann, die beiden eine helle neue Wohnung beziehen.

Doch als Zuschauer spürt man, dass etwas nicht stimmt, dass das Gesehene eine Fiktion ist. Die Macht von Tinte auf einem DIN-A4-Blatt vom Amt lässt sich nicht so leicht wegwünschen. Diese Träume sind kleine Fluchten, aber keine Lösung. Am Ende bleibt die Ausreiseaufforderung. Für Zohra, für Rhim, für viele andere.

Auch wenn die zweite Hälfte des Films mit kreativer Bildgestaltung (Hauptfigur unsichtbar und unhörbar im Off) spielt, bleibt der Stil stets dokumentarisch. Völlig neutral beobachtend ist die Kamera fixiert und hält minutenlang das Geschehen fest. Nicht nur im Schauspiel (Darstellerin spielt eine Version ihrer selbst), sondern auch im Bild verschmelzen hier Dokumentation und Fiktion.

Obwohl ihre Rolle dramatisch ist, kann man eigentlich wenig von einem klassischen Schauspiel Rhim Ibrirs sprechen, was im bestmöglichen Sinne zu verstehen ist. Sie beeindruckt vor allem durch ihre klare Präsenz vor der Kamera, wie sie zurückhaltend und doch raumeinnehmend ist. Ihr Schauspiel liegt nicht im „spielen“, sondern im Kanalisieren der eigenen Erfahrung.

Laaaaaaaaaaaaaang(weilig)

Eine unbequeme Wahrheit ist, dass der Film streckenweise langweilt. Vielleicht hat diese Langeweile System. Das Leben ist nun einmal streckenweise langweilig. Menschen fahren mit dem Bus, Menschen füttern ihre Schildkröte, Menschen warten… warten… warten auf dem Amt. Obwohl man sich diese gezwungenen Langeweile-Momente erklären kann, ist es manchmal doch schwer zu ertragen, minutenlange Sequenzen zu sehen, in denen es um nichts geht. Die Kunst von Schauspiel und Schnitt besteht ja genau darin, einer Beziehung oder Lebenssituation in wenigen Momenten Leben einzuhauchen, ohne sie langwierig darlegen zu müssen. Der Film fordert die klassischen Sehgewohnheiten vieler Kinogänger:innen heraus, die langwierigen Einstellungen sind dabei die schwierigsten.

Auch emotional bewegen wir uns eher in einer Bimmelbahn als einer Achterbahn. Ziemlich nüchtern erleben wir Zohras Schicksal, es gibt keine „großen“ emotionalen Momente, die der Integrität des Films vermutlich geschadet hätten. Dadurch bleibt das Seherlebnis jedoch unberührend und distanziert.

Fazit

6.7/10
Ganz okay
Community-Rating:
Handlung 6.5/10
Visuelle Umsetzung 8/10
Emotionen 6/10
Dialoge 6/10
Tiefgang 7/10
Details:
Regisseur: Philip Scheffner,
FSK: 0 Filmlänge: 109 Min.
Besetzung: Rhim Ibrir,

Schicksale können erzählt, aber nie unmittelbar erlebbar gemacht werden. Europe versucht dennoch, mit kreativen Mitteln darzustellen was es bedeutet, wenn die Existenzgrundlage von einem amtlichen Schriftstück infrage gestellt wird. Das ist künstlerisch anspruchsvoll und in seiner unaufgeregten Inszenierung manchmal ehrlich gesagt etwas langweilig. Ein Drama, welches sich am Rand des dokumentarischen bewegt und deshalb nicht leicht mit anderen vergleichbar ist. Doch durch seine besondere Erzählweise leistet es einen anregenden Beitrag zur (Kino)Debatte über Flucht, Bleiberecht und Heimat.

Artikel vom 16. März 2022

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