Kritik: Loving Vincent
VAN GOGHS GEMÄLDE ERWACHEN ZUM LEBEN
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VAN GOGHS GEMÄLDE ERWACHEN ZUM LEBEN
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Die Filmhandlung setzt nach dem Selbstmord von Vincent van Gogh (Robert Gulaczyk) in einem Kornfeld ein. Armand Roulin (Douglas Booth) soll im Auftrag seines Vaters Joseph (Chris O’Dowd) einen Brief von Vincent an seinen Bruder zustellen, den van Gogh selbst nicht mehr abschicken konnte. Armand sucht nach dem passenden Adressat und gelangt schließlich in das französische Städtchen Auvers-sur-Oise, in dem Vincent bei Doktor Gachet (Jerome Flynn) in Behandlung war. Nach und nach kommen Armand Zweifel an der Geschichte von Vincent’s Selbstmord. War es überhaupt Selbstmord, oder kann es auch andere Gründe für seinen Tod geben? Armand führt tief gehende Gespräche mit verschiedenen Charakteren, die Vincent als Maler portraitiert hat: “Das Mädchen in Weiß” (Helen McCrory), Dr. Gachet und dessen Tochter Marguerite (Saoirse Ronan), sowie den Bootsmann (Aiden Turner). Der Zuschauer erfährt Hintergründe und Details zum Schicksal des Mannes, der nie miterlebte, wie seine Kunst die Welt erobern würde.
Schön und gut, die Story ist also zum Teil ein Krimi, aber was ist jetzt mit diesen Ölgemälden? Ja, der gesamte Film besteht aus 65.000 handgemalten (!) Ölbildern!
Viele Szenen des Films sind an originale Gemälde van Goghs angelehnt. Keiner der Charaktere ist frei erfunden. Als Vorlage für die Maler wurden einzelne Szenen mit echten Schauspielern, darunter Jerome Flynn (Game of Thrones) und Saoirse Ronan (Brooklyn), als Referenzmaterial gedreht. In extra für diesen Film konzipierten Mal-Stationen, sogenannten PAWs (Painting Animation Workstations), erschufen die Maler per Hand die einzelnen Gemälde, die den 80-minütigen Film zum Leben erwecken ließen. Nachdem die Grundversion der Szene in Form eines Gemäldes abfotografiert wurde, veränderten die Maler mit einzelnen Pinselstrichen dasselbe Gemälde zum nächsten Frame, welches wieder abfotografiert wurde – und so weiter. Einblicke in diese Workstations gibt es hier.
Mit dieser phänomenalen Produktionsart ist Loving Vincent der erste vollständig als Realfilm produzierte Animationsfilm in Spielfilmlänge, bestehend aus vielen Tausenden Gemälden.
Die Geschichte des Kriminalfilms und die Animationen der Ölgemälde ergänzen sich perfekt und gipfeln in wunderbarem Storytelling. Es gibt Momente, wo man sehr bedacht die Pinselstriche, die sich von Bild zu Bild ändern, beobachtet und über die Virtuosität des Films staunt. Und es gibt Momente, in denen man nicht einmal merkt, dass es einzelne Gemälde sind, denn die Story ist packend. Der Spagat zwischen Mal- und Filmkunst wurde vom Regie- und Ehepaar Dorota Kobiela und Hugh Welchman gekonnt überwunden.
Dazu kommt die exzellente Kameraführung. Wir sprechen und sehen hier nicht nur eine “Obendraufsicht”, sprich von oben abfotografiert, sondern der Zuschauer folgt den Charakteren auch durch Straßen und Landschaften. Dafür wurde jedes einzelne Gemälde perspektivisch Schritt für Schritt angepasst. Zu verdanken ist das Tristan Oliver, der auch schon die Animationen des Oscar-prämierten Films The Grand Budapest Hotel realisierte.
Zudem ist auch das Sounddesign besonders gelungen – es klingt wie Originalton und lässt nie Geräusche vermissen. Die Gemälde wirken dadurch umso lebendiger. Vom Rascheln des Kleides der Kellnerin, bis zum Krähen der Raben, die aus dem Feld aufgeschreckt werden – hier wurde nichts vergessen. Die Atmosphäre ist beeindruckend.
Aber das ist noch längst nicht alles, was den Film Oscar-würdig macht.
Nicht nur die Gemälde sind echte Handarbeit, auch die ganze Planung und Produktion beweisen ein Händchen für richtig gutes Filmhandwerk. Doch wie kommt man überhaupt auf solch eine Idee? Inspiration fanden die Filmemacher in einem Brief von van Gogh an seinen Bruder: „Nun ja, die Wahrheit ist, dass wir nicht anders sprechen können als mithilfe unserer Werke.“ Das nahmen die Macher des Films wortwörtlich. Van Gogh’s einzigartiger Malstil sollte auf die Filmleinwand kommen und dazu benötigte es seine Technik an schnellen Pinselstrichen und Farbkonsistenz. Regisseurin Kobiela coachte nicht nur die Schauspieler für das Referenzmaterial, sondern auch die Maler, die sich selbst in die Rolle des Vincent van Gogh als Maler einfühlen mussten. Eine große Herausforderung, aber genau das zeigt die Liebe zum Detail. Die sieht man übrigens auch im ein oder anderen kreativen Übergang im Film:
Aus den Briefen stammt übrigens auch der Filmtitel. Vincent van Gogh unterschrieb seine Briefe an seine engsten Freunde stets mit “Your loving Vincent”. Außerdem wählten die Filmemacher nicht das standardmäßige 16:9 Seitenverhältnis, sondern 1.33:1 (bzw. 4:3), um van Gogh’s künstlerische und intellektuelle Arbeit zu würdigen. Die meisten seiner Gemälde sind im gleichen Format entstanden.
„I want to touch people with my art. I want them to say ‘he feels deeply, he feels tenderly’.“
Vincent van Gogh
Nicht nur van Gogh wollte Menschen berühren, auch die Macher des Films lassen sich von van Goghs Vision inspirieren Das spürt man in jeder Sekunde des Films.
Loving Vincent erzählt eine berührende Geschichte und ist gleichzeitig ein großes Hommage an den niederländischen Künstler, die zum Nachdenken über Kunst und die Person Vincent van Gogh anregt. Der Film ist ein Experiment, das geglückt ist. Klassische Ölgemälde werden mit dem “modernen” Medium Film auf einzigartige Weise verbunden. Story und Machart verschmelzen perfekt ineinander. Es ist nicht nur Kunst, sondern auch ein Kunststück, einen 90-minütigen Kinofilm aus Ölgemälden zu produzieren. Die Oscar-Nominierung ist daher absolut verdient. Neben den komödiantischen Animationsfilmen sticht dieser Film auf jeden Fall heraus – wer weiß, was das am Ende bedeutet. Am 04. März 2018 wird es feststehen, doch eins steht für mich heute schon fest: I’m loving Vincent!
Artikel vom 15. Februar 2018
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