Kritik: Medusa
Apokalypse, ungeschminkt
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Sonntags singen sie in der Kirche Lieder von der Liebe Gottes, doch wenn es Nacht wird, ziehen Mariana (Mari Oliveira) und ihre makellosen Freundinnen durch die Stadt. Homosexuelle Frauen, Partygängerinnen und alle anderen, die nicht in ihr christliches Weltbild passen, werden verfolgt und verprügelt, das Ziel ist die Zerstörung aller Schönheit. Ein vor Jahren attackiertes und entstelltes Opfer ist untergetaucht, doch scheint plötzlich in einem Krankenhaus aufgetaucht zu sein. Mariana schleust sich als Krankenschwester ein. Ein online geteiltes Foto vom entstellten Gesicht des Opfers wäre der ultimative Triumph für die Gruppe. Doch Mariana beginnt an der Rechtmäßigkeit ihrer Glaubensschwestern zu zweifeln und wird zusätzlich von Visionen geplagt.
Wer schön sein will, muss Leid zufügen. So interpretieren Mariana und ihre Gang das alte Sprichwort. Die Gruppe steht unter enormen Druck: Schönheit ist die einzige Währung, die zählt. Für Brasilianerinnen ist sie quasi nationaler Auftrag. Die Tage beginnen mit dem Auftragen einer dicken Schicht Creme, selbst wenn das Jüngste Gericht bevorsteht, soll es doch niemand wagen, ungeschminkt zu erscheinen. Gleichzeitig gilt es aber, im Sinne eines christlichen Lebenswandels eben jene Schönheit zu verbergen – bloß nicht zu viel Haut, zu viel Lust, zu viel Sex-Appeal. Schön sein ist Pflicht, doch wer seine Schönheit zur Schau stellt, sündigt. Eine Widersprüchlichkeit, die nur mit großer psychischen Belastung gelebt werden kann.
Dem Drehbuch gelingt es sehr gut, das Spannungsfeld der Hauptfiguren aufzustellen. Ihre ultrareligiöse Gemeinschaft fordert viel und erlaubt wenig, der Druck wird von einem Mitglied zum nächsten übertragen und steigert sich so unerträglich, dass er doch alle zusammenschweißt. Der Einfluss der sektenhaften Gemeinde geht über das Kirchengebäude hinaus: der Pastor strebt eine politische Karriere an (und schwört seine Schäfchen auf den Wahltag ein), die jungen Frauen vom Chor tragen die Mission auf die Straße: unerkenntlich maskiert überfallen sie nachts andere Frauen, die nicht ins evangelikale Weltbild von Weiblichkeit passen. Die Maske wird zum allgegenwärtigen Symbol. Jedes Mitglied der Gruppe wird zum Teil der gesichtslosen Masse, kann ihre Identität ablegen und so im Namen einer höheren Sache nachts eine homosexuelle Frau überfallen und zusammenschlagen. Doch genauso ist das Make Up eine Maske, die das wahre Gesicht nicht erkennen lässt. Schminke kann Gefühle kaschieren, blaue Flecken verdecken. Die Symbolik des Films ist reichhaltig, dabei jedoch nie abwegig. In der ersten Hälfte greift alles ineinander, Themen und Handlungsstränge unterstützen einander.
Besonders erfrischend ist die Besetzung des Films – eine ausschließlich weibliche Gruppe kümmert sich um eine weibliche Problematik: den Zwang der Äußerlichkeit. Dabei sind die Hauptfiguren, allen voran die nahbare Mariana, keine passiven Opfer aber auch keine Zickentruppe. Regisseurin und Autorin Anita Rocha da Silveira gibt uns das, wovon es im Kino noch immer zu wenig gibt: handlungsfähige, konsequente Frauen – die nicht gut sind. Über lange Laufzeiten müssen wir uns mit Frauenfiguren auseinandersetzen (Männer sind inhaltlose Randfiguren), die auf der bösen Seite stehen. Zwar können wir für sie keine Sympathie entwickeln, doch zeichnet der Film ein greifbares Bild eines widersprüchlichen Lebens, in dem das Smartphone sowohl für Schmink-Tutorials als auch Gewalt-Videos genutzt wird.
Bald, man ahnt es, löst sich Mariana aus der Gruppe und hinterfragt ihren Freundeskreis. Leider verliert hier der Film über viele Szenen die Aufmerksamkeit. Der Standpunkt der Hauptfigur verharrt in einer Zwischenwelt: Sie ist noch verankert im religiösen enthaltsamen Schönheitswahn, doch auch angezogen vom freien Lebensstil ihrer neuen Bekanntschaften. Soweit ein bekanntes Topos von der Emanzipation einer jungen Frau aus konservativen Verhältnissen. Doch gelingt es dem Film nicht, in dieser Übergangsphase die Spannung aufrecht zu erhalten. Die zuvor noch funktionierende Symbolik sinnentleert sich fortschreitend. Glücklicherweise gleitet die Handlung oft kontrolliert ins Fantastische ab, Mariana wird von Visionen heimgesucht und verarbeitet ihren psychischen Druck in beängstigenden Tagträumen. Ohne diese schlicht und doch wirkmächtig inszenierten Realitätsflüchte wäre die Mitte des Films sehr ermüdend. Er mündet schließlich in einem Handlungsstrang der zu einem unbefriedigenden Ende führt.
Eine Stärke des Film ist die erfrischende Konsequenz, Frauen ins Zentrum zu stellen, die stark, aber nicht moralisch gut sind. Das erste Drittel der Spielzeit kann aus diesem Setting und einem verlockenden Mystery-Plot Schwung aufbauen, das zweite Drittel verliert dann die Kontrolle über seine Hauptfigur in der Findungsphase. Das Ende des Films lässt sowohl die erzählerische Konsequenz des Beginns vermissen, außerdem relativiert sie die gesamte Entwicklung der Hauptfigur.
Der Film zeichnet ein neongrelles Bild von radikal-ausgelegter Religion, die Frauen kontrolliert und in die Passivität drängt. Obwohl die Mystery-Elemente die Handlung zunächst vorantreiben, wendet sich der viel zu lange Film dann doch zu einer lauwarmen emanzipatorischen Geschichte hin, welche alles bisher spannende außer Acht lässt. Chance vertan.
Artikel vom 24. Februar 2023
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