Kritik: One of These Days
SPIEL DES LEBENS
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In einer texanischen Kleinstadt findet jedes Jahr der Hands On-Wettbewerb des lokalen Autohauses statt. Ein brandneuer Pick-Up steht auf dem Parkplatz und per Los bestimmte Teilnehmer:innen legen eine Hand auf das Auto – wer als letzte:r die Hand vom Wagen nimmt, darf ihn mit nach Hause nehmen. Kyle (Joe Cole) hofft, bis zuletzt durchzuhalten, der erfolglose Fast Food-Koch benötigt das Auto, um seine Familie durchzubringen. Über mehrere Tage hält er durch, immer eine Hand am Wagen und den Traum vor Augen, während auch die anderen Teilnehmer:innen kämpfen, um dabei zu bleiben. Überwacht wird das Spektakel von Joan (Carrie Preston), die nach außen hin strahlende Showmasterin ist, innerlich jedoch genauso am Kleinstadtleben festhängt wie die Kandidat:innen am Pick-Up.
„Der Mensch lebt kurze Zeit und ist voller Unruhe“ – In einer dunklen, schlaflosen Nacht zitiert Ruthie diese Bibelweisheit, während Grillen zirpen und die Stadt schläft. Ihre Zuhörer:innen sind keine Kirchengemeinde und auch nicht freiwillig für Ruthies Liturgie erschienen, sie kleben genau am Auto fest wie sie und haben keine Wahl, als zuzuhören, wenn Ruthie mit einer Hand die Bibel aufschlägt und im Kampf gegen den Sekundenschlaf rezitiert. Sie sind eine tragische Gruppe von Menschen, die kurze Zeit lebt und voller Unruhe ist – eine falsche Bewegung und man ist raus. Wer das Auto gewinnen will, bleibt stehen. Wer das Auto wirklich gewinnen will, versagt sich selbst Schlaf, Freiheit und Würde.
Aus einem obskuren Spiel, in dem andere vielleicht gerade mal Material für eine Vice-Doku gesehen hätten, entdeckt Bastian Günther eine Parabel über das (Über)Leben der Abgehängten und die Arbeitswelt. Nach und nach eröffnet sich, dass es hier nicht wirklich um einen lustigen Wettbewerb geht, sondern das Auto für einen Traum und Fixpunkt für die Teilnehmer:innen steht. Es ist nicht einfach ein nagelneuer V8-Pick-Up Truck, sondern ein Versprechen. Für Peggy ist es eine Lebensperspektive, der Weg raus aus der Kleinstadt – obwohl sie eigentlich gar nicht weiß, wohin. Für Walter vielleicht das letzte, was er im Leben reißen wird. Für Kyle wäre es ein Beweis, dass er lebensfähig ist, über sich hinauswachsen und seine Familie versorgen kann. Dass er in diesem Leben, dass ihm wenig Chancen gibt, bestehen kann.
Klar, sich mit Energy Drinks wachhalten und in einen Becher zu pinkeln, um ein Auto zu gewinnen ist so ziemlich das Gegenteil von sinnstiftender Arbeit. Doch ist Joans Leben erfüllender? Ein Leben, in welchem sie morgens im Autohaus arbeitet, mittags Besorgungen erledigt und Abends in einem Roadhouse Männer kennenlernt? Wem das Gedankenspiel von Squid Game gefiel, aber nichts mit laser-verschießenden Riesenpuppen anfangen kann, dem sei diese Parabel über sinnentleerte Arbeit und ihre sozialen Begleiterscheinungen empfohlen.
Der The Winner takes it All-Wettbewerb bringt das Schlechteste in den Menschen zum Vorschein. Pöbeleien, Nervenzusammenbrüche und persönliche Attacken werden zum legitimen Mittel, wenn es in die heiße Phase geht. Ob diese Art, sich ein Auto zu verdienen nicht gefährlich und unmenschlich ist? Joans Antwort ist dieselbe, mit der jede Art von entmenschlichenden Tätigkeiten begründet wird: „Nein, sie könnten doch jederzeit gehen?!“ Als die Spieler:innen dann, um dem Delirium zu entgehen, die Nationalhymne anstimmen, hat der Zynismus seinen Höhepunkt erreicht.
Leider weiß das Drehbuch nicht richtig wie es die Geschichte zu Ende bringen soll. Nichts einfacher als das? Last wo:man standing, Preisverleihung, Pick-Up fährt in den Sonnenuntergang. Leider ist es nicht ganz so einfach, denn wie bereits erläutert ist die Hands On-Competition ein erzählerisches Vehikel und nicht das, worum es dem Regisseur eigentlich geht. Oder wie es Joan in einer starken Szene selbst formuliert, als sie über Kyle gefragt wird: „Muss er wirklich unbedingt dieses Auto haben?“ „Nein. Er muss unbedingt mal gewinnen“.
Mit zwei Stunden ist der Film etwas zu lang geraten und strandet in losen Szenenfolgen, nachdem eigentlich alles gesagt wurde. Doch die liebgewonnenen Teilnehmer:innen, Kleinstadt-Misfits, die auf das große Los hoffen, das niemals kommt, bleiben bei uns. Nichts schweißt so sehr zusammen wie eine heiße, texanische Nacht, wenn Grillen zirpen, Parkplatz-Laternen summen und Ruthie aus dem Wort Gottes zitiert, eine Hand auf der Bibel, die andere auf dem Pick-Up.
Aus einer genial-simplen Idee lässt das starke Drehbuch eine Parabel über entfremdete Arbeit und soziale Absteiger:innen entstehen, die alles tun, um einmal im Leben zu gewinnen. Selbst an den Rändern des Wettbewerbs herrscht eine dramatische Schwerkraft, tolles Schauspiel und nüchterne, tragische Bilder vermitteln, dass das „normale“ Leben häufig auch nicht anders verläuft als ein grausamer Wettkampf. Das zerfasernde Ende irrt etwas planlos in den Abspann hinein, doch schmälert das diese rundum gelungene Indie-Perle kaum.
Artikel vom 14. Juni 2022
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