8.4/10

Kritik: Roma

BILDGEWORDENE POESIE

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Genres: Drama, Startdatum: 06.12.2019

Interessante Fakten für…

  • Obwohl der Film visuell für die große Leinwand geeignet war, entschied sich Alfonso Cuarón für eine Veröffentlichung auf Netflix, um ihn einem möglichst großen Publikum zugänglich zu machen.
  • Der Film wurde in Mexico City gedreht. Das ist der Grund, weshalb öfter im Hintergrund Flugzeuge zu sehen sind – laut Cuarón startete eines alle 5 Minuten.

In seinen eigenwilligen Filmen trifft Regie-Virtuose Alfonso Cuarón fast immer einen spürbaren Nerv. Ob zutiefst philosophische Werke wie ‘Children of Men’ oder Sci-Fi-Bombast wie ‘Gravity’ – man denkt noch lange über seine packenden Geschichten nach. Cuaróns Netflix Original ‘Roma’ bietet da keine Ausnahme. Und wird das Publikum spalten.

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Irgendwann in Mexiko

Alltag bleibt Alltag. Etwas anderes scheint die Haushaltshilfe Cleo (Yalitza Aparicio) nicht zu kennen. In Mexiko-Stadt arbeitet die junge Mexikanerin Anfang der 70er für eine wohlhabende Familie. Obwohl die Kinder Cleo über alles lieben, sind die Rollen klar verteilt: wenn es darauf ankommt, gilt es, jeden Wunsch von den Lippen abzulesen.

Das Leben der Großfamilie droht jedoch aus den bekannten Fugen zu geraten, als der Familienvater mit einer jungen Kollegin durchbrennt und die Mutter Sofia (Marina de Tavira) mit den vier Kindern alleine lässt. Ausgerechnet in Zeiten, in denen politische Ausschreitungen stark zunehmen und die bekannten Sicherheiten wegzufallen drohen. Dann erreicht Cleo eine unerwartete Nachricht…

Aus den Augen eines Kindes

Für sein visuell beeindruckendes Zeitdokument bediente sich Alfonso Cuarón (zweifacher Oscarpreisträger für Gravity) seiner eigenen Kindheit. Teilweise rekonstruierte er ganze Straßenzüge aus seinen Erinnerungen, um den Flair der 1970er authentisch wiederzugeben . Sogar die dargestellte Familienkonstellation, die Erinnerungen an die politischen Geschehnisse und die Figur des Hausmädchens selbst entstammen direkt aus dem Leben des Regisseurs. So, wie er auch selbst sein Umfeld damals wahrgenommen haben muss, mutet nun auch Roma an.

Mit einer distanzierten, oft lediglich beobachtenden Kamera fängt Cuarón den oft schnöden Alltag ein. Dabei geistert der Fokus nicht selten einfach durch die Gegend und verliert gelegentlich auch die Protagonisten aus den Augen. Doch genau das will der Filmemacher auch vermitteln: wir erleben den Alltag in all seinen unspektakulären Geschehnissen, in all seinen zwischenmenschlichen Konflikten und in all seinen urkomischen Momenten mit. Das führt allerdings in der ersten Stunde dazu, dass die Gedanken des Zuschauers hin und wieder abschweifen – so richtig packend wird es erst in der zweiten Filmhälfte.

Cinematografischer Geniestreich

Wie schon in seinen Meisterstücken Children of Men und Gravity setzt Cuarón (der sich nicht nur für das Drehbuch, Regie, Produktion, Schnitt, sondern auch für die Kamera verantwortlich zeichnet) wieder auf ausgiebige Plansequenzen. Im Zusammenspiel mit dem starken Timing der Akteure entstehen so immer wieder unheimlich immersive Momente, in denen man förmlich in die Szenerie eintaucht und das Gefühl des Moments richtig aufsaugt. Der starke Kontrast dieser Szenen wird vor allem im direkten Vergleich deutlich: eine minutenlange und augenscheinlich bedeutungsarme Putzaktion wirkt dabei so gemächlich, wie eine gewalttätige Ausschreitung auf den Straßen Mexikos unmittelbar und brutal wirkt.

Szenen wie Gemälde: Die schwarz-weißen Bilder stellen das Geschehen meist aus der Distanz dar.

Szenenbild aus dem Film Roma von Alfonso Cuarón mit einem Käfer und einem Ehepaar vor einer Einfahrt

Die charakteristischen schwarz-weiß Bilder in Roma wirken dabei wie eine leicht verblasste Erinnerung. Ganz im Gegensatz zu den Motiven, die so lebendig sind, wie sie nur sein könnten. In großzügigen Totalaufnahmen werden mit Menschen belebte Straßen, alte Kinos, Luxusvillen und Landschaftspanoramen auf die Heimkino-Leinwand geworfen. Diese Einstellungen sind so gekonnt ausgeleuchtet und in Szene gesetzt, dass viele davon wie kleine Kunstwerke wirken. Ja, Cuaróns Auge für Bilder bleibt ein echtes Highlight!

Zwischen Freiheit und Zugehörigkeit

In Roma rückt der Fokus nie von unserer Protagonistin ab. Die von der Laiendarstellerin Yalitza Aparicio authentisch dargestellte Cleo lebt einen spürbaren Spagat: einerseits steht sie der Familie sehr nahe und wirkt fast wie ein Mutterersatz. Dann wiederum muss sie in den warmen, familiären Momenten aufspringen, um dem Vater doch noch rasch eine Tasse Tee zu holen. Sie fühlt sich wohl, doch wirklich dazu gehört sie nicht.

Diese Urangst manifestiert sich vor allem dann, wenn Cleo um ihre Stellung fürchtet, weil sie ungeplant schwanger wird. Wohin gehört die unscheinbare, stille Bedienstete? Ein Ausbruch aus dem bekannten Umfeld scheint keine Option zu sein. Dieser stark bedeckte Wunsch, den Cuarón immer wieder mit prominent platzierten Flugzeugen am Himmel sichtbar macht, wird von Cleo konsequent ignoriert. Diese sachte angedeutete Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach Nähe und der Angst vor Ablehnung macht Roma unglaublich menschlich.

Ein poetisches Zeitdokument

Wie bereits im ungeheuer packenden Children of Men versteht es Alfonso Cuarón, allein sein Setting sprechen zu lassen. Viele teils schockierende Momente geschehen im Hintergrund, werden nur aus einem Augenwinkel oder zwischen zwei Fensterrahmen wahrgenommen. Wenn die Soldaten des autoritären Präsidenten Luis Echeverría durch die Straßen marschieren, denkt man sich zunächst nichts dabei. Das geschieht erst dann, wenn diese unscheinbaren Elemente die Geschichte aktiv beeinflussen.

Cleo und Pepe spielen “tot sein”. Im von Gewalt heimgesuchten Mexiko schon beinahe eine ironische Metapher.

Cleo und Pepe liegen auf einem Dach in einem Szenenbild für Kritik Roma.

So zum Beispiel beim tatsächlich stattgefundene Fronleichnam-Massaker, das in Roma deshalb so überwältigend wirkt, weil es im krassen Kontrast zu den vorhergehenden, ruhigen Momenten steht. Es ist unter anderem diese Szene, in dem Cuarón das bisher lose zusammengeflickte Storygeflecht in einen dramaturgischen Rahmen packt. Leider wird er viele Zuschauer bis zu diesem Zeitpunkt verloren haben.

Für diejenigen jedoch, die der fast meditativen ersten Stunde Gehör schenken, werden gegen Ende mit drei emotionalen, virtuos inszenierten und hochspannenden Sequenzen belohnt, die wirklich unter die Haut gehen. Die überragend komponierten Bilder und poetisch-ruhigen Sequenzen ohne Schnitt bekommen hier von dem zunehmend dominanten Sounddesign eine ganz neue, unangenehme Facette verpasst. Dafür, dass Roma die meiste Zeit wie ein Storyfragment ohne allzu gravierende Zusammenhänge wirkt, bekommt der Schlussakt eine unerwartete Aussagekraft. Die hier erreichte Emotionalität entlohnt größtenteils für den ein oder anderen Leerlauf-Moment.

Fazit

8.4/10
Stark
Community-Rating:
Handlung 7.5/10
Emotionen 8/10
Ausstattung 9.5/10
Visuelle Umsetzung 9/10
Schauspiel 8/10
Details:
Regisseur: Alfonso Cuarón,
FSK: 12 Filmlänge: 135 Min.
Besetzung: Carlos Peralta, Daniela Demesa, Diego Cortina Autrey, Marco Graf, Marina de Tavira, Yalitza Aparicio,

Einigen wird er nicht gefallen, der neue Film von Alfonso Cuarón. Zu langatmig, zu träge, zu unspektakulär. Doch jede Sekunde ist durchkomponiert und mit einer ungeheuren Stilsicherheit vorgetragen, wie es nur ein Routinier wie Cuarón bewältigen kann. Der Zuschauer erlebt den zähen, monotonen Alltag genau so leibhaftig mit, wie die unerwarteten, brachialen Momente des Lebens. Diese Immersion wird durch die herausragende Kameraarbeit ermöglicht, die kontrastreiche schwarz-weiß Bilder der Extraklasse serviert. Ja, der der Film aus den Erinnerungen des Regisseurs wirkt wie ein wildes Fragment – wirkt aber genau deshalb so lebensnah und emotional. Wer sich auf diese Filmreise einlässt, die klar mit den Sehgewohnheiten des Zuschauers bricht, der wird mit einem Arthouse-Kleinod belohnt, das auch bei den Oscars ein Wörtchen mitreden dürfte. Wem es zu müßig wird, Haushaltshilfen minutenlang bei der Arbeit zuzusehen, wird sich mit Roma hingegen nicht unbedingt einen Gefallen tun.

Artikel vom 2. Januar 2019

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