Kritik: Capernaum – Stadt der Hoffnung
WELCHE HOFFNUNG?
Jetzt direkt streamen auf:
[jw_add_widget-sc]
WELCHE HOFFNUNG?
Jetzt direkt streamen auf:
[jw_add_widget-sc]
Der libanesische junge Zain (Zain Al Rafeea) lebt in den Slums von Beirut im puren Elend. Seine Eltern lassen ihn und seine vielen Geschwister finanziell und pädagogisch verwahrlosen. Nach einem tragischen Ereignis hat der 12-Jährige genug und verklagt seine Eltern, ihn überhaupt geboren zu haben.
Dieser Film ist kein Slumdog Millionaire. Am Ende erwartet uns kein Happy-End, kein Tanz. Stattdessen jagt uns Regisseurin Nadine Labaki durch einen Kreislauf des Elends, der zwischen Armut, Missbrauch, Menschenhandel und Perspektivlosigkeit nur sporadisch einen Funken Hoffnung zulässt.
Capernaum eignet sich nicht einmal als Heulfilm. Wir weinen nur dann, wenn wir unsere negativen Gefühle rauslassen können, um danach einen Zustand des inneren Friedens zu erfahren. Stattdessen hat Capernaum viel mehr eine “Augen zu und durch”-Attitüde, denn es gibt keine große Lösung des Konflikts. Es gibt nur noch mehr Leid… und noch mehr Leid.
Die Idee klingt stark nach Drehbuchautor: Ein Kind will seine Eltern verklagen. Tatsächlich spielt diese reißerische Prämisse nur eine untergeordnete Rolle. Wir sehen nicht, wie das Kind juristische Kriegszüge mit der Rechtsanwältin führt, nur um endlich die Alten hinter Gitter zu bringen. Stattdessen nutzt Regisseurin Labaki den Prozess als Rahmenhandlung und fokussiert die restliche Story darauf, warum der junge Zain überhaupt im Gerichtssaal landet.
Da Capernaum uns einen Teil des Endes vorwegnimmt, spielt Labaki mit den Erwartungen des Zuschauers und liefert einige schockierende Enthüllungen, bevor sich die Filmhandlung vollständig zu einem Kreis schließt. Obwohl das Drehbuch keiner Hollywood-Agenda folgt, ist der Film exzellent strukturiert und erzählt.
Diese abfällige Bemerkung müssen sich viele Filme gefallen lassen, die Armut auf drastische Weise darstellen, um bei uns privilegierten Menschen aus den Industriestaaten Mitleid zu erzeugen. Dabei will Capernaum kein Mitleid. Er will uns wachrütteln und sensibilisieren.
Labaki weiß genau, wann die Linie zum Pathos überschritten wird – und verzichtet zum Beispiel weitgehend auf sentimentale Soundtrack-Einlagen, gepaart mit den wässrigen Blicken schmutziger Kindergesichter.
Auch Protagonist Zain ist kein Kind, das man aus Mitleid gerne adoptieren würde. In einer wuchtigen Anfangssequenz sehen wir, wie Zain und seine Freunde auf der Straße “Krieg” spielen, mit selbstgebauten Gewehren, und danach eine Schachtel Kippen wegrauchen.
Labaki zeigt hier eine besondere Weisheit, die wir in Filmen nur selten sehen: Selbst Kinder sind nicht unschuldig. Doch die Suche nach einem Schuldigen für die Misére in den Slums von Beirut ist ebenso hoffnungslos. Passend, das “Capharnaüm” übersetzt “Chaos” bedeutet. Umso unpassender ist übrigens die deutsche Ergänzung Stadt der Hoffnung. Welche Hoffnung?
Nicht nur hat man mit Zain Al Rafeea einen talentierten Jungschauspieler gefunden, sein Charakter ist auch großartig geschrieben. Viel zu reif für sein Alter, mit all seinen Licht- und Schattenseiten, kann man sich als Erwachsener erschreckend gut in die Denkweise von Zain hineinversetzen. Er flucht was das Zeug hält, reagiert bei Gefahr aggressiv und gewalttätig und denkt immer zwei Schritte voraus. Besonders dramatisch wird Zains Charakterentwicklung, sobald bereit für einen Mord ist.
So abgebrüht die Charaktere in Capernaum auch sind, sie bleiben dennoch menschlich. Und hier zeigt sich dann doch der kleine Hoffnungsschimmer. Sobald Zain von Zuhause durchbrennt, trifft er auf die illegale Migrantin Rahil (Yordanos Shiferaw) und kümmert sich fürsorglich um ihr Baby, als sie eines Tages von den Behörden festgesetzt wird. Die Szenen sind herzerwärmend, wenn auch erschreckend und teils traumatisierend.
Besonders gelungen ist die Chemie zwischen Zain und dem Säugling – soweit man das überhaupt “Chemie” nennen kann. Es ist mehr die Idee, dass sich ein obdachloser Junge um ein fremdes Baby kümmert, die unheimlich bewegend ist. Damit wird auch die Moral der Geschichte, man solle nicht verantwortungslos Kinder in die Welt setzen, relativiert. Schließlich sind sowohl Zain als auch der Säugling ungewollte Kinder. Viel mehr will Labaki also ein Statement gegen Verwahrlosung setzen – an der nicht immer die Eltern selbst Schuld sind.
Der Protagonist ist gefangen im Körper eines Zwölfjährigen und dementsprechend ist auch die Kamera tiefer gesetzt. Der Film atmet die tiefen Straßenschluchten von Beirut mit jeder Aufnahme ein und ist dabei bis ins Detail authentisch. Die Szenen sind unglaublich gründlich arrangiert und dirigiert, was an den ebenfalls sehr impressionistischen Roma erinnert.
Doch im Gegensatz zu Alfonso Cuarons mexikanisches Filmdrama, das ebenfalls für “Bester fremdsprachiger Film” bei den Oscars nominiert ist, zoomt Nadine Labaki lieber rein statt raus. Die Kamera bleibt eng am Geschehen und ist stellenweise so effektiv wie in einem Dokumentarfilm. Besonders der letzte Frame des Films brennt sich in den Kopf ein und wird vermutlich der Initiator für die minutenlangen Standing Ovations bei den Filmfestspielen in Cannes gewesen sein.
Die Themen in Capernaum bereiten Magenschmerzen. Viel Hoffnung gibt es dabei nicht, wie der deutsche Titel absolut falsch suggeriert. Stattdessen hat Regisseurin Nadine Labaki einen ungeheuer intensiven und authentischen Film über das Leben in den Slums von Beirut geschaffen, der viele Probleme aber wenig Lösungen anspricht. Damit entzieht sie sich einer Großspurigkeit, die ihr Werk unnötig in Pathos und Melodrama ertränkt hätte. Denn für einige Probleme gibt es keine einfache Lösung. Dementsprechend ist Capernaum ein schwerer Film ohne Absolution, der einen noch lange nach dem Kinobesuch verfolgt.
Artikel vom 9. Februar 2019
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!