7.9/10

Kritik: The Outrun

DIE FLUCHT NACH HAUSE

Genres: Drama, Startdatum: 05.12.2024

Interessante Fakten für…

  • Dies ist der erste auf Papa Westray produzierte Film.
  • Der Unterstand zur Vogelbeobachtung ist keine für den Film errichtete Kulisse, sondern steht nach wie vor auf der Insel.

Alkoholsucht ist kein leichtes Thema, doch dieser Film wird ihm gerecht. Er wird nicht als dramaturgischees Erzählmittel missbraucht. „The Outrun“ erzählt vielschichtig ein Leben nach und macht begreifbar, wie diese Krankheit zerstört.

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#Kinogänger #Klassiker #Trashfan

Darum geht’s

Die Biologiestudentin Rona (Saoirse Ronan) wuchs auf der schottischen Inselgruppe Orkney auf und  genießt nun das Leben in London. Doch schleichend verwandelt sich ihre Freiheit in Unfreiheit: Rona entwickelt ein ernstes Alkoholproblem. Als der Konsum ihre eigene Sicherheit gefährdet und ihre Beziehung zerstört, schlägt sie am Boden auf und entscheidet sich für einen Entzug. Auf der Flucht ins heimische Orkney will sie den alten Gewohnheiten ausweichen. Doch auch hier gibt es Alkohol und, schlimmer noch, alte Wunden die nicht geheilt, sondern nur betäubt werden. Rona flieht weiter nach Norden. Auf der kleinen Insel Papa Westray ist sie allein mit sich, den Wellen und der Vergangenheit.

Im Norden des Nordens

Großbritannien ist eine Insel vor Europa. Orkney ist eine Inselgruppe vor Schottland. Papa Westray ist eine der nördlichsten Inseln Orkneys. Viel weiter kann man nicht fliehen vor dem Trubel der Welt. Wie in ihrem bisher größten Erfolg Systemsprenger stellt Nora Fingerscheit wieder eine junge Frau in den Mittelpunkt, die nicht nur gegen die Welt, sondern vor allem gegen sich selbst kämpfen muss.

Nach einer Kindheit im schottischen Niemandsland und wilden Jahren in London erreicht Rona den ersten und gleichzeitig tiefsten Tiefpunkt ihres Lebens. Zwar erzählt der Film nicht von der Sucht um der Dramaturgie willen, sondern betrachtet sie als eine Facette von Ronas Persönlichkeit (dazu später mehr). Doch die Schwere des Themas dominiert, natürlich, weite Teile des Films. Der Kampf gegen den Alkohol schwebt über allen Szenen. Jede Szene ist eine Flucht, weg von der nördlichsten Schnapsflasche Schottlands, hin zu Ronas Mitstreiter:innen, die ihren Kampf teilen und sie die härteste Lektion des Erwachsenenlebens lehren: It never gets easy. It just gets less hard.

Das Leid wächst heraus

Das Leben wird in seiner vollen Bandbreite erzählt, vom Londoner Club bis zur Küste, an der die Wellen rauschen. In vielfältigen Einstellungen wird das Bild voll ausgereizt, die Mimik der Figuren ist gleichberechtigt neben ihrer Position in der Landschaft. Doch nicht nur optisch bewegt sich der Film mit voller Freiheit, auch zeitlich wird mit Konventionen gebrochen. Gegenwart und Vergangenheit schmelzen ineinander. Dem Film gelingt es durch kreatives Erzählen, den komplizierten menschlichen Zustand darzustellen: Heute ist auch gestern. Ich bin heute derselbe, der ich gestern war.

In The Outrun werden Szenen aus allen Phasen von Ronas Zeitstrahl ineinander verzahnt. Die Bilder und Zeitebenen stehen nicht nebeneinander, sie werden regelrecht übereinander montiert. Am anschaulichsten ist das in dem wiederkehrenden Detail der Haarfarbe Ronas. Der Film stellt die Rona der Gegenwart mit blonden Haaren und cyanfarbenen Haarspitzen vor. In Rückblenden sehen wir dann ihre letzten, katastrophalen Tage in London: der ganze Schopf gefärbt in genau diesem hellblau. Eindrücklich macht der Film spürbar, dass “London” und “Orkney” keine unabhängigen Episoden sind, sondern in der Gegenwart immer noch ein Stück Vergangenheit in Rona steckt. Doch das Vergangene wächst, wie Haarfarbe, heraus.

Kein One-Issue-Film

Nicht nur an Spielzeit, Inszenierung und Dialogen gemessen, ist The Outrun ein Figurenfilm und stellt diese konsequent in den Vordergrund. Räumlich, zeitlich sowie (und das ist die besondere Leistung des Films) innerlich ist Rona der Anker, doch auch die Menschen in ihrem Umfeld werden ernst genommen. Ihr Partner und ihre Eltern sind im Umgang mit Rona überfordert, doch der Film bringt das Verständnis auf und erzählt, wie sie dennoch einen Zugang finden. Auch Rona fällt es schwer, allen Beziehungen gerecht zu werden, die Bedürfnisse und Probleme jeder einzelnen Figuren finden berechtigten Platz. Und doch ist The Outrun kein Problem- oder gar ein One-Issue-Film.

Mit filmischer Finesse vermittelt die Regisseurin, was dem Menschen ganz selbstverständlich bewusst ist, auf der Leinwand aber nur selten spürbar ist: Durch alle Phasen hindurch sind die Figuren dieselben Menschen. Die sturzbetrunkene Rona mit den hellblauen Haaren ist dieselbe wie die 90 Tage trockene Rona mit den hellblauen Haarspitzen. Es ist nicht die Geschichte einer Alkoholkranken, sondern die Geschichte von Rona, die alkoholkrank ist. Kein Drama über eine Einsiedlerin, sondern über Rona, die zeitweise allein lebt. Unterschiedliche Lebensabschnitte werden zusammenmontiert und werden eins. In all diesen unterschiedlichen, gegensätzlichen Welten ist es doch immer derselbe Mensch, den wir sehen.

Fazit

7.9/10
Gut
Community-Rating:
Handlung 8/10
Visuelle Umsetzung 8.5/10
Emotionen 7.5/10
Atmosphäre 7.5/10
Schnitt 8/10
Details:
Regisseur: Nora Fingscheidt,
FSK: 12 Filmlänge: 119 Min.
Besetzung: Paapa Essiedu, Saoirse Ronan, Saskia Reeves, Stephen Dillane,

Die Hauptfigur ist keine dramaturgische Trägerschicht, sondern lebendiges Subjekt. Obwohl der Film in vielen Zeitsprüngen fast gegensätzliche Bilder seiner Hauptfigur zeigt, wird durch filmisches Handwerk aus unterschiedlichen Versatzstücken ein kohärentes Leben erzählt. The Outrun macht die Sucht nicht zum Zentrum des Films, Thema ist sie dennoch. In eindrücklichen Momenten zersetzt der Alkohol das Leben der Protagonistin und umspült die Menschen in ihrem Leben. Doch die faszinierende Schlusssequenz entlässt mit der Hoffnung, dass ein Mensch mehr ist als seine Vergangenheit oder Facetten. Er ist die Summe aus einer Vielzahl an Geschichten, Eigenschaften und Möglichkeiten.

Artikel vom 13. Dezember 2024

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