Kritik: Vienna Calling
MUSIK-EXTRAVAGANZ NACH WIENER ART
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Knapp 1,5 Stunden, einer der schönsten Hauptstädte der Welt und eine Handvoll Kunstschaffender, die uns Einblicke in ihren alles andere als konventionellen Alltag geben. Über ein Jahr wurde Samu Casata, EsRap, Kerosin95, Der Nino aus Wien, Gutlauninger, Lydia Haiders Trio gebenedeit und dem hierzulande recht bekannten Voodoo Jürgens begleitet. Zwischen Austropop und waschechter Liedermacher-Musik, zwischen Festivals und Untergrund-Performance, zwischen radikaler Selbstinszenierung und Intimität wird sich der Faszination der Wiener Musikszene genähert.
Der Blick hinter die Kulissen einer Szene, die den Ruf hat, extrem individualistisch, ausgefallen und ausschweifend zu sein, macht neugierig. Die Antworten, die die Dokumentation zu geben versucht, lässt die Zuschauenden allerdings erst einmal stutzen: Was genau war noch mal die Frage? Wie sich Musikschaffende in Wien organisieren? Womit sie hadern? Was ihnen ihre Kunst gibt? Aus welchem Milieu sie kommen?
Die fragmentarischen Häppchen, die uns Jedicke serviert, geben zu all diesen Fragen lediglich den Hauch einer Antwort, die jedoch niemals endgültig ausfällt. Vielmehr vermittelt sie ein Gefühl: von Zugehörigkeit, dem Finden der eigenen Stimme, dem Abheben von der Masse, dem Integrieren der eigenen Biografie in die jeweiligen Kunstformen, dem Zelebrieren von Kunst und dem Kampf gegen sich wandelnde Zeiten. Dass gegen Ende von Vienna Calling ein einziges Statement den ganzen Mythos um die Wiener Musikszene mal eben dekonstruiert, fällt deshalb gar nicht mehr so sehr ins Gewicht (auch, wenn diese Sequenz im Gesamtkontext etwas fehlplatziert wirkt). Offenbar haben auch die Filmemacher:innen auf halber Strecke ihren Fokus geändert.
Auch wenn es schwer fällt, hier den roten Faden zu finden, strotzt Jedickes Dokumentation nur so von Atmosphäre. Der Soundtrack und die Songs der porträtierten Künstler:innen erzeugen tatsächlich einen Sog, der den Hype um die Musikstadt Wien erahnen lässt. Die Bilder von Max Berner, der sich mit Carina Mergens auch für den Schnitt verantwortlich zeichnet, sind gleichermaßen ausdrucksstark, ästhetisch wie auch in den passenden Moment rough. Vom Atelier von Voodoo Jürgens bis hin zum Glamour-Laden der Friseur-Legende Erich Joham hat jedes Setting so viel Charme, dass die Szenen extrem kurzweilig wirken. Es lässt sich erahnen, wohin der oben erwähnte Fokus gewandert ist: Die Antwort auf die Frage nach der Wiener Musikszene findet weniger in Gesprächen als in einem ganz speziellen Feeling statt.
Inhaltlich lebt der Film von seinen Künstler:innen. Voodoo Jürgens bekommt mit Abstand die meiste Screentime: vom herrlich ausgefallenen Peepshow-Konzert bis hin zum Kirchen-Auftritt erleben wir den Liedermacher vor allem als sympathischen Vollblutkünstler. Wenn er rauchend den Künstler Der Nino aus Wien malt und die beiden dabei über ihre gesundheitlichen Ambitionen schnacken, hat das wirklich humoristische Spitzen.
Auf der anderen Seite laufen manche Geschichten ins Leere – vor allem Gutlauninger hat darunter merklich zu leiden. Seine Szenen, in denen er mit goldenem Anzug Fitnessübungen macht, gehören zwar zu den skurrilsten der ganzen Dokumentation, doch einen richtigen Einblick in sein (künstlerisches) Innenleben sucht man vergebens. Bei den geheimen Stars der Doku EsRap hingegen gelingt der Blick – vor allem in die Familiengeschichte – deutlich besser. Insgesamt muss man sich bei Vienna Calling am Ende die Frage stellen, ob die Dokumentation wirklich so inhaltsstark ist, wie die Prämisse das verspricht. Wenn, dann findet sich dieser Inhalt doch sehr zwischen den Zeilen. So richtig nahe kommt man den Künstler:innen nämlich nur sehr vereinzelt.
Auffallend ist, dass die porträtierten Künstler:innen sich immer wieder über den Weg laufen. Damit wird der Eindruck suggeriert, dass es sich um eine winzige Community handle, in der jede:n jede:n kennt. Hinsichtlich der unterschiedlichen Genres, die hier vorgestellt werden, wirkt das gelegentlich eher gekünstelt als realitätsnah. EsRap sitzen bei einem Konzert von Vodoo Jürgens, Samu Casatas singt im Chor von gebenedeit und irgendwann spielen alle gemeinsam auf einem Musikfestival.
Warum auch noch Stefanie Sargnagel mit einem rezitierten Gedicht vorkommt oder gegen Ende über Gentrifizierung und Kultkneipen gesprochen wird, entzieht sich der ohnehin schon löchrigen Stringenz von Vienna Calling. Und hier zeigt sich ein Stück weit die Problematik, mit der Jedicke vermutlich auch im Entstehungsprozess konfrontiert wurde: kann in 85 Minuten ein ambivalentes, repräsentatives Bild der Wiener Musikszene geboten werden? Die Antwort ist: wohl kaum. Und trotzdem macht Vienna Calling aufgrund der spannenden Figuren und starken Atmosphäre Spaß und vermittelt zumindest einen fühlbaren Einblick in eine fremde Welt. Ob das die Wiener Musikszene genauso sieht und sich ausreichend repräsentiert fühlt, steht auf einem anderen Blatt.
So richtig weiß Vienna Calling nicht, was er sein soll. Für Künstler:innen-Porträts fehlt die Intimität der insgesamt zu zahlreichen Figuren. Zu rudimentär wirken die Einblicke, wenn wir denn überhaupt welche bekommen. Die „große Wiener Musikszene“ wirkt bisweilen tatsächlich zu inszeniert, um authentisch zu wirken. Und doch hat Vienna Calling einen ganz eigenen Charme, dem man sich kaum entziehen kann. Skurrile Momente, eingängige Songs, bis zur Selbstaufgabe inszenierte Kunstfiguren und eine Bildsprache, die immer wieder den doch melancholischen Ton auflockert. Ein Film für eine Nische, die danach auch nicht viel schlauer sein wird. Aber man wird wenigstens gut unterhalten.
Wir haben den Film auf dem Film Festival Cologne 2023 gesehen.
Artikel vom 3. November 2023
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