Kritik: Midnight Mass – Staffel 1
Gottesdienste der blutigen Art
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Der verlorene Sohn kehrt nach Hause. Nachdem Riley Flynn (Zach Gilford) betrunken einen Autounfall verursachte, bei dem ein junges Mädchen ums Leben kam und schließlich mehrere Jahre dafür einsaß, verschlägt es ihn an den Ort seiner Jugend: das abgeschiedene Crockett Island. Dort leben nicht nur seine Eltern und sein Bruder, auch seine Jugendliebe Erin Greene (Kate Siegel) hat es wieder nach Hause gezogen.
Der ohnehin nur oberflächlich vorhandene Frieden des Städtchens wird erschüttert, als gruslige Gestalten nachts über den Strand huschen und dann auch noch der Dorfpfarrer spurlos verschwindet. Stattdessen taucht eines Sonntags der charismatische und äußerst eifrige Father Paul (Hamish Linklater) auf und schafft es im Nu, die Kirchenbänke wieder vollzukriegen. Doch jeder traut dem Priester – schon gar nicht der muslimische Sheriff Hassan (Rahul Kohli).
Mike Flanagan hat ein Händchen für die psychologischen Seiten seiner Figuren. Wie zuvor in seinem erstklassigen Spuk in Hill House und dessen weniger gruseligem, aber immer noch starkem Nachfolger Spuk in Bly Manor sind Schauplätze, Gegenstände und Konflikte oftmals ein Symbol der Psyche. Und so darf auch in Midnight Mass – Staffel 1 fleißig entschlüsselt werden, welche mehr oder weniger subtilen Elemente Flanagan versteckt hat.
Dabei fährt er gleich eine ganze Reihe nicht wenig fundamentaler Fragen auf: Wie gehen wir mit unserer Schuld um? Können wir Menschen, die uns Unrecht getan haben, vergeben? Wie widerstehen wir Versuchungen? Gibt es einen Gott? Und wenn ja: welcher ist der richtige? All diese Fragen muten natürlich äußerst theologisch an. Und daraus macht Flanagan absolut keinen Hehl!
Die Dialoge der Serie sind bis zum Anschlag gespickt mit Bibelzitaten. Mike Flanagan, der selbst als Kind Ministrant in der katholischen Kirche war, lässt sich nicht lumpen und verwebt Mysterium und Glaubensbekenntnis zu einem erstaunlich stimmigen Horrorteppich. Denn – und so viel darf verraten werden – die nächtlichen Monstergestalten lassen sich auch vortrefflich mit aus dem Kontext gerissenen Bibelversen erklären.
Für manche könnte das allerdings zur Zerreißprobe werden. So beeindruckend das Verse-Stakkato für halbwegs bibelfeste Zuschauer:innen auch sein mag, so nervtötend wird es doch gerade in den letzten Folgen der Miniserie. Flanagans Liebe zum Detail und unglaubliche Recherche-Wut in Ehren, hier übertreibt er es ein ganzes Stück. Ganz davon abgesehen, dass die meisten Zuschauer:innen wohl nicht katholische Theologie studieren. Der interreligiöse Dialog hingegen, der in einigen Folgen angedeutet wird, bekommt leider wesentlich weniger Platz eingeräumt – eine verpasste Chance.
“Umso mehr wir wissen, desto weniger beugen wir uns. Desto brüchiger werden wir, leichter zu brechen.”
Vater Paul in Midnight Mass
Das gemächliche Entfalten des Mysteriums, das die Insel umgibt, ist gewohnt gelungen. Flanagan lässt sich Zeit für seine Figuren und Konflikte, setzt Jumpscares sparsam (aber effektiv!) ein und rückt erst nach vier Episoden so richtig mit der Sprache raus. Böse Zungen würden das als slow burner betiteln, doch das fulminante Finale mit der heftigsten Kirchenszene seit Kingsman: The Secret Service liefert den erhofften emotionalen Payoff. Und bis es so weit ist, sorgen genügend Plot-Twists für echte Überraschungen!
Optisch lässt Midnight Mass – Staffel 1 nichts zu wünschen übrig. Die Kamera malt regelrechte Gemälde auf den Homescreen, Farbgebung und Sound Design sind aus einem Guss und der oft auf Kirchenlieder reduzierte Soundtrack von The Newton Brothers sorgt für unheimlich-sakrale Stimmung. Überhaupt gelingt es Flanagan insgesamt wesentlich besser als in seiner durchwachsenen The Shining-Fortsetzung Doctor Sleeps Erwachen, seine Geschichte organisch entfalten zu lassen. Nur einem alten Laster kann er nicht ganz widerstehen…
Mehr denn je scheint Mike Flanagan seinen durchaus komplexen Themen und Gedanken nicht vollends zu vertrauen. War der Schluss-Monolog in Spuk in Hill House schon gefährlich nah am Rande zum Kitsch, gibt es in Midnight Mass – Staffel 1 fast keine Folge, die nicht mit einem ellenlangen Monolog auskommt, in der geschliffene Lebensphilosophien abgefeuert werden. Flanagan traut seinem Publikum nicht zu, zwischen den Zeilen zu lesen – weshalb er alles Relevante mit Filzstift auf die Zeilen klatscht.
Dadurch geht bisweilen einiges von dem sorgsam aufgebauten Mysterium verloren, weil alle Hintergründe fast zu Tode erklärt werden. Da können selbst die bewährten Schauspieler:innen, von denen viele zu Flanagans Inventar gehören (darunter der großartige Henry Thomas, Kate Siegel oder Samantha Sloyan), nicht mehr vor der Pathos-Falle retten.
Dass Midnight Mass – Staffel 1 diese Erklär-Bär-Momente überhaupt nicht nötig hat, zeigen die sorgsam gezeichneten Figuren. Jede einzelne wartet mit einem konfliktreichen Background auf, der auch nur nach und nach offenbart wird. Im Gegensatz zu den nervtötenden Monologen sind es deshalb die Dialoge, die einen echten Mehrwert bringen. Einfach, weil jede Figur entsprechend ihrem Hintergrund argumentiert und handelt – und nicht, weil auf Teufel komm raus etwas erklärt werden muss.
So gehören die Diskussionen zwischen Vater Paul und dem Atheisten Riley zu den echten Highlights der Serie. Ebenso wie die Auseinandersetzungen der fast geschlossen katholischen Inselgemeinschaft mit dem Sheriff, der nun mal nicht an Gott, sondern an Allah glaubt. Hier entstehen echte Momente, weil sich Flanagan auf die Komplexität und Tiefe seiner Figuren verlässt.
Mit seinem neuen Netflix-Original zeigt Mike Flanagan erneut seine bewährten Stärken – und Schwächen. Wird das Horror-Mysterium der beschaulichen Insel sorgsam und optisch einwandfrei aufgebaut, stehen überlange Monologe und wenig subtile Erklärungen der Spannung im Weg. Dabei wäre das gar nicht nötig, denn die Figuren sind nachvollziehbar und tiefgründig geschrieben und entwickeln ganz organisch – ähnlich wie der Horror-Plot – eine Dynamik, die voll in das Geschehen hineinzieht. Am Ende bleibt eine thematisch (und theologisch) ausgefallene, dicht inszenierte Mini-Serie, die trotz bekannter Schwächen gut unterhält und gerade im Finale nochmal ordentlich einheizt!
Artikel vom 6. Oktober 2021
Danke für die unermüdliche Arbeit, die ihr leistet.
Liebe Grüße Alisa