Kritik: The Underground Railroad – Staffel 1
Kein Licht am Ende des Tunnels
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19. Jahrhundert, USA: In den Südstaaten ist Sklaverei brutale Realität. Auf einer Baumwollplantage in Georgia ist an Flucht nicht zu denken und selbst wenn: wohin sollte man fliehen? Cora (Thuso Mbedu) und Caesar (Aaron Pierre) wagen es trotzdem und besteigen die mysteriöse, unter der Oberfläche operierende Eisenbahn Richtung Norden. Doch der Kopfgeldjäger Ridgeway (Joel Edgerton) ist ihnen dicht auf den Fersen und auf einer endlosen Flucht müssen die beiden feststellen, dass es in diesem Land keinen Platz für Schwarze gibt.
Dystopien, Alternate Reality, Fantastischer Realismus und andere Formate, die Geschichten neu erzählen oder weiterspinnen, haben Hochkonjunktur. The Handmaidens Tale, Black Mirror, The Man in the High Castle… es gibt eine große Faszination für Erzählungen, in denen die uns bekannte Welt ins Dunkel versinkt. Kein Wunder, sind es doch lehrreiche Illustrationen von hochkomplexen Themen und ihren Auswirkungen. Technologie, Politik, Migration, Klimawandel… angenommen, wir finden auf diese Fragen die falschen Antworten – was würde passieren?
The Underground Railroad erzählt ebenfalls die Geschichte neu, jedoch unterscheidet die Serie etwas Grundlegendes von anderen alternativen Realitäten. In den meisten Fällen wird der Pinsel tief in Phänomene unserer Gegenwart getaucht (z.B. Diktatur, Technokratie, Klassenkampf), der Vorstellungskraft freier Lauf gelassen und der sprichwörtliche Teufel an die Wand gemalt. Barry Jenkins musste dies nicht tun. Der Teufel war bereits an der Wand. Unübersehbar, die rot-weiß-blaue Farbe lange trocken. Um Unbehagen zu erzeugen, braucht es kein „Stell dir vor…“-Gedankenspiel. Das Leid muss sich nicht vorgestellt werden, es steht in den Geschichtsbüchern.
Hoffnung erscheint in diesem Drama in Form der Underground Railroad, einer untergründigen Eisenbahnlinie, die geflüchtete Sklaven unter der Erde in den sicheren Norden bringen soll. Eine historisch unmögliche technische Leistung (man muss weder Historiker:in noch Ingenieur:in sein um sich vorzustellen, dass eine Dampf(!)lokomotive unter der Erde ein Fantasieprodukt ist), doch die Erzählung nutzt diesen Anachronismus, um ein fiktives Kapitel in der Geschichte aufzuschlagen. Die Legende der Eisenbahn geht über alle Plantagen, Cora, Caesar und ihre Leidensgenossen und -genossinnen klammern sich an sie. Doch dieser hoffnungsvolle Funke droht bald zu erlöschen. Die Fahrt im Zug Richtung Norden ist keine Erlösung in die Freiheit, sondern der Beginn einer Odyssee durch die Höllenkreise der Vereinigten Staaten. Die Maxime von The Underground Railroad ist: was wir sehen ist keine beliebige, dunkle Episode in der Geschichte des Landes, dies sind prägende Jahrzehnte der USA, die sich tief in die DNA der jungen Nation eingruben.
Die Übersetzung des Romans in ein visuelles Medium ist gelungen, dennoch offenbart sich an einigen Punkten die Unzulänglichkeiten des Serienformats. Der Horror der Randall-Plantage besteht aus der Degradierung der Menschen zu Objekten und der unbeschreiblichen Folter. Doch all diesem liegt, und dies schafft die Serie nur unzureichend zu vermitteln, die Alltäglichkeit des Terrors zugrunde. Gewalt, Zwang und Willkür geschehen täglich. Das Schlimmste ist der morgensmittagsabends herrschende Traum von der Flucht, während der allgegenwärtigen Gewissheit, dass es unmöglich ist. Obwohl die erste Folge auf mehr als eine Stunde Spielzeit kommt, reicht die Zeit nicht, um zu vermitteln, dass es nicht nur die Folter, sondern die jahrelange Alltäglichkeit der Tyrannei ist, welche den Menschen zermürbt. Nach einer kurzen Darstellung der Routine sind wir bereits auf der Flucht. Das ist im besten Sinne atemberaubend, aber vermittelt eben auch den Eindruck, dass eine Flucht jederzeit möglich wäre.
Die Gestaltung der albtraumhaften Welt ist hervorragend. Wir bewegen uns langsam durch die junge Nation, von den vermeintlich zivilisierten Städten bis hin zum Feuer und Schwefel-Fegefeuer eines abgebrannten Waldes. Auf der Tonspur zischt, knackt und dröhnt es bedrohlich. Wenn wir mit Cora und Caesar auf der Flucht sind, fühlen wir uns ihnen nah, wie sie mit geschärftem Gehör durch die Natur streifen, in der jedes Insekt und jeder brechende Ast zum Verräter werden kann. Die Ebenen Ton und Bild lösen sich voneinander und manche Momente erscheinen wie ein Fiebertraum. Ein stilistisches Highlight ist die Episode, welche die Jugend des Antagonisten Ridgeway (wortwörtlich) beleuchtet. Als Sohn eines Schmiedes ist der junge Ridgeway in glutrotes Licht getaucht, vom Schmiedehammer bis zum Uhrpendel klingt das Metall und beschwört einen Bösewicht, der nicht aus Fleisch und Blut, sondern Eisen und Feuer entsteht.
Er ist kein fanatischer, rassistischer Psychopath, sondern ein kühler Pragmatiker, für den Ausbeutung und Jagd auf Menschen ein Business ist. Im Verlauf der Serie werden wir Zeuge seines Verfalls, ähnlich wie das System selbst hält er sich hassgetrieben auf den Beinen, obwohl seine unmenschliche Substanz innerlich bereits verrottet ist.
Am anderen Ende steht Cora, die genauso zitterig auf den Beinen ist. Jede Station ihres Weges füllt sie entweder mit ein wenig Leben oder entzieht ihr die letzten Reserven. Sie pendelt zwischen scheuem Glauben an die Zukunft, in dem sie ihren ureigenen Charakter durchscheinen lässt und dunkelsten Momenten, in denen alles Menschliche abzufallen scheint und nur ein Kern zurückbleibt, der nichts anderes ausdrücken kann als: Ich will leben.
Jede Station der Flucht ist in ihrem Terror ikonisch, ein eigener Stil, Look und Sounddesign drücken jeder Folge einen Stempel auf, der uns fesselt und das Verbrechen des rassistischen Systems in allen Facetten auffächert. Cora stößt auf ein breites Spektrum von Menschen und kann in diesem Land dennoch nicht zur Rast kommen. Egal, wie weit man sich vom Süden entfernt, es ist nie weit genug. Rassismus hält nicht immer eine Peitsche in der Hand, seine Ausprägungen sind weitreichender und subtiler. Mit dieser Darstellung ist die Serie auf der Höhe der Zeit.
Die zehn Folgen tun weh und werden kaum jemanden unberührt lassen. Ob die Serie ein prägendes Meisterwerk ist, wird die Zeit zeigen. Doch die sagenhafte Eisenbahn ist unbestreitbar ein gelungenes, metaphorisches Werkzeug in dieser historischen Erzählung, welcher ein fast schon unerhörtes Gedankenspiel voranstellt ist: „Stell dir vor, es hätte Hoffnung gegeben…“. Wenn wir uns in diese Zwischenwelt begeben, die fantastisch und doch nah am Albtraum ist, vernehmen wir die Stimmen derjenigen, die es nicht in die Geschichtsbücher geschafft haben. Es ist dringend nötig, sie zu hören.
Artikel vom 30. Mai 2021
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