Kritik: Tote Mädchen Lügen Nicht – Staffel 1
Jetzt direkt streamen auf:
Jetzt direkt streamen auf:
Wochen nachdem Hannah Baker (Katherine Langford) sich in der Badewanne die Pulsadern aufgeschnitten hat und ihre verzweifelten Eltern ratlos zurückließ, bekommt ihr Highschool Freund Clay Jensen (Dylan Minette) von seinem Freund Tony (Christian Navarro) eine Schuhschachtel mit 13 Audiokassetten. Wer das Buch 13 Reasons Why kennt, das Jay Asher vor zehn Jahre veröffentlichte, der weiß um die Struktur von sowohl Serie als auch Buch. Hannah war ein Opfer von Mobbing und mehr – und in diesem Memento hinterlässt sie ihre Anschuldigungen und Erklärungen für ihren Selbstmord. Jede Seite einer Kassette ist einem Schüler gewidmet, der auf ihre Entscheidung einen bestimmten Einfluss hatte. Offensichtlich ist Clay der Letzte in der Reihe, der die Kassetten bekommt.
Diese Ausgangslage ist natürlich exzellentes Futter für die Macher der Serie, denn sie erlaubt allerlei Spielchen mit Perspektive und Zeitdimensionen, eine Gelegenheit, die reichlich genutzt wird. Und so ist es ein raffiniertes Mosaik, das sich dem Zuschauer bietet. Manchmal scheint der Hauptdarsteller Clay wörtlich neben sich zu stehen, wenn er von der Geisterstimme Hannah’s zurückgeführt wird an die Schauplätze ihrer Demütigungen und er seinem vergangenen Selbst begegnet. Misstrauisch beäugt er die sich entfaltenden Szenen in ständigem Zweifel, ob auch er Schuld trägt.
Sein Freund Tony tritt hier in einer zunächst etwas mysteriösen Funktion auf als sowohl Beschützer als auch Ermahner. Tonys Rolle wird allerdings bis zum Schluss nicht wirklich klar, Clay beschimpft ihn als Yoda, doch Tony ist weder weise noch überlegen, wenn er auch oft Ratschläge gibt und sich Möglichkeiten zur Hilfe ausdenkt. Er ist einfach ein grundanständiger Junge, der in die Geschehnisse nicht selbst verwickelt war und deshalb von Hannah als Hüter der Kassetten ausgewählt wurde.
Dylan Minette spielt Clay mit einer erstaunlichen Intensität: Man glaubt ihm, dass er an der Aufgabe fast zerbricht, denn er ist der einzige, der die Bänder nicht auf einmal durchhört, weil er es einfach nicht ertragen kann. Er ist der Anständige, der Schüchterne, der Hannah eher aus der Ferne liebte und mit ihrer doch eher schwierigen Art nicht zurechtkam. Denn als sie sich näher kamen war Hannah schon viel zu verletzt durch die vorausgegangen Zwischenfälle, dass sie sich nicht mehr wirklich auf ihn einlassen konnte. Und mit 17 ist er auch noch nicht erfahren genug, um dieses Verhalten als Hilfeschrei deuten zu können.
Die Schauspielerin der Hannah spielt souverän und feinfühlig, Hannah als Person bleibt aber bis zum Ende uneindeutig – ebenso wie ihr tragischer Entschluss. Und das ist auch der Vorwurf, der der Serie gemacht werden kann. Penibel und zeitweise zu langatmig (etwas mehr Disziplin beim Script hätte dem Ganzen gutgetan) werden die Verletzungen, Gemeinheiten und Übergriffe posthum aufgerollt und beschrieben. Alltag in einer amerikanischen Highschool, wo die erfolgreichen Sportler das Sagen haben und die Mädchen mit einer zu selbstbewussten Arroganz behandeln. Hannahs Kassetten-Testament will das aufdecken, anschuldigen, beweisen und zur Rechenschaft führen – und genau darin liegt eine gewaltige Schwachstelle der Idee an sich.
Als die Serie auf den Markt kam, ging ein Aufschrei der Entrüstung durch die Fachwelt der Jugendmediziner und Psychiater, die sich um suizidgefährdete Jugendliche kümmern.
Der Nachahmereffekt ist eine bekannte Droge. Schon der berühmteste aller Selbstmörder – Goethes Werther – hatte Hunderte Selbstmorde inspiriert. Das Thema ist hoch gefährlich, davon konnten schon andere Filmemacher in der Vergangenheit berichten. Und hier ist noch ein weiterer Faktor zu bedenken: Durch die ständige Anwesenheit von Hannah als Person, die durch ihre Stimme die Handlung die ganze Zeit begleitet, könnte der Eindruck entstehen, dass es sich lohnt, auf diese Art Rache an den verhassten Mitmenschen zu üben. Dass der Tod endgültig ist und man die Genugtuung nicht mehr erfährt, scheint einem jungen Menschen u. U. nicht bewusst zu sein. Netflix geht mit dem Thema sehr leichtsinnig um. Zwar erscheint bei jeder Folge ein Warnhinweis, der auf eine (amerikanische) Hilfsorganisation hinweist und es gibt im Anschluss eine Dokumentation, in der auch Psychologen zu Wort kommen, aber das ist sicher nicht genug, um die hypnotische Macht der Bilder aufzuhalten. Der Selbstmord selbst wird in der letzten Episode mit quälender Genauigkeit gezeigt und könnte als eine Anleitung missverstanden werden. Schließlich schläft Hannah friedlich in der Wanne ein.
Das, was diese Serie auf jeden Fall bietet, ist reichlich Stoff für Diskussion. Es eröffnen sich jede Menge Fragen: Wo sind die Eltern, warum wendet sich Hannah nicht an sie? Wieso denkt sie nicht an die katastrophalen Auswirkungen, die ihre Handlung auf sie haben wird? Wiese sucht sie keine Hilfe bei Clay oder Tony, die ja ihre Freunde sind? Ist sie eine Drama-Queen oder – und vor allem – war sie psychisch krank? Dieses Thema wird kaum erwähnt, wenn man auch davon ausgehen kann, dass sie unter Depressionen litt.
Die Geschichte ist gut und spannend erzählt und gefilmt, wenn sie sich auch zwischendurch zu langatmig anfühlt und sich in zu vielen Kleinigkeiten verliert. Eine Straffung und Kürzung um mehrere Folgen hätte dem Ganzen gutgetan. Die Botschaft ist unklar und steigt kaum über das Unterhaltungsniveau hinaus. Sie ist zu wenig durchdacht und somit gefährlich für psychisch anfällige Jugendliche. Für alle anderen, die gerne ein gut inszeniertes Psychodrama anschauen möchten mit exzellenten jungen Darstellern ist die Serie durchaus empfehlenswert. Staffel zwei ist in Vorbereitung und wird sich mit den weiteren Auswirkungen auf die Charaktere beschäftigen. Man sollte auf mehr Tiefgang hoffen.
Artikel vom 17. Januar 2018
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!