Kritik: Tribes of Europa – Staffel 1
DRECKIGE DEUTSCHE DYSTOPIE
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Es ist das Jahr 2074. Nachdem ein globaler Blackout vor vielen Jahren sämtliche gesellschaftliche Strukturen zerstört hat, ist Europa erneut zum Fleckenteppich verfeindeter Zwergstaaten und Gruppierungen geworden. Der Stamm der Origines – darunter die Geschwister Liv (Henriette Confurius), Kiano (Emilio Sakraya) und Elja (David Ali Rashed) – hat sich in seiner Naturbezogenheit mit dem neuen Ist-Zustand blendend arrangiert. Doch eines Tages stürzt ein Raumschiff mitten in deren Gebiet ab. An Bord: ein mysteriöser Cube. Hinter dem sind dummerweise die ultrabrutalen Crows her, die sich nicht lumpen lassen, den Origines die Hölle heiß zu machen…
Ich bin absoluter Genre-Liebhaber. Als Tim Fehlbaum 2011 mit dem deutschen Apokalypse-Film Hell um die Ecke kam, habe ich begeistert mit der Zunge geschnalzt. Ja wie, es gibt noch anderes als lahme RomComs und Hitler-Filmchen in Deutschland? Dass diesbezüglich langer Atem und ein Quäntchen Glück vonnöten sind, hat das erste Netflix-Original Dark eindrucksvoll gezeigt. Der Mut zum Genre kann sich auszahlen – auch hierzulande.
Und so muss ich Tribes of Europa – Staffel 1 auch erst einmal das attestieren: Mut zu einem waschechten Genre-Stoff! Die Prämisse ist simpel wie folgerichtig. Was würde passieren, wenn unsere (derzeit ohnehin schon fragile) Gesellschaft vollends gesprengt werden würde? Wie würde sich Europa entwickeln? Welche Konflikte würden ausbrechen? Das birgt die Chance, eine zutiefst in der Gegenwart verankerte Geschichte konsequent weiterzuerzählen – immerhin wurde mit dem Brexit 2016 das Ende der Europäischen Union, wie wir sie kennen, eingeläutet. Doch das Autor*innen-Team rund um Creator Philip Koch wählt einen anderen Ansatz.
Schnell wird klar, dass Tribes of Europa – Staffel 1 vielleicht doch zu viele Genre-Zutaten in den Serien-Eintopf geworfen hat und dabei nicht ganz stimmig wirkt. Erinnern die Origines (in Anlehnung an die Aborigines) noch an friedliche Zukunfts-Hippies, stammen die Atlantier mit ihrer High-Tech direkt aus dem Science-Fiction. Die blutrünstigen Crows sehen aus wie feierwütige Berliner bei ihrem Berghain-Besuch (oder als hätten sich die Writer nochmal The Matrix gegönnt und für zeitlos gehalten), während die Crimson Republic, die sich aus dem Eurokorps gebildet hat, wie die Exekutive einer Orwell’schen Dystopie aussieht. Geht das zusammen? Nicht wirklich.
Während die unterschiedlichen Sub-Plots mit ihren ganz eigenen, eindrucksvollen Sets und in sich stimmigen Kostümen kohärent wirken, will sich das bunte Gemisch nicht so wirklich vereinen. Das liegt einerseits an den völlig unterschiedlichen Tribes, die derart verschiedene Lebensrealitäten haben, dass die Authentizität der Serienwelt merklich darunter leidet. Wie kann sich die Gesellschaft so grundlegend anders entwickeln?
Andererseits ist es der Verzicht von Realismus, der zumindest den Einstieg ins Geschehen erschwert. Würden sich Menschen in der Post-Apokalypse ernsthaft innerhalb von wenigen Jahrzehnten zu Rave-feiernden Cyberpunks entwickeln? „Ja“, sagt die Serie und somit müssen wir sie gänzlich ins Fantasy-Genre verfrachten. Als waschechter Trash geht sie auch nicht durch, dafür nimmt sich die Show viel zu ernst.
Sobald die Geschichte Fahrt aufgenommen hat und die drei Geschwister zersprengt durch das ehemalige Deutschland irren, geht Tribes of Europa – Staffel 1 einen recht konventionellen Weg. Jede der Figuren hat eigene Hürden und moralische Dilemmas zu überwinden, die jedoch sehr unterschiedlich und deshalb enorm kurzweilig ausfallen. Nicht zuletzt, weil jeder Geschichte eines der oben genannten Genres und Stimmungen zugeordnet wird.
Wandelt Liv in den militärischen Fußstapfen von Children of Men, muss sich Kiano mit Lack und Leder tragenden Dominas rumschlagen, die arme Arbeiter unterjochen und bei Berliner Techno in Saus und Braus leben. Eine allegorische Qualität wie etwa bei Bong Joon-hos superber Gesellschafts-Kritik Snowpiercer erreicht das Spektakel allerdings nicht einmal im Ansatz.
Zuletzt gibt es da noch Elja, der den zwielichtigen Moses (beweist Comic Relief-Qualitäten: Oliver Masucci) trifft und eher die Steampunk-Seite des neuen Europas erkundet. Hier wird vor allem deutlich, dass der gesamte Plot an einem waschechten MacGuffin hängt, dem plötzlich alle Welt nachjagt. Leider nur wenig spannend. Jede Geschichte trägt sich mal mehr, mal weniger gut, bietet aber allein schon durch die große Abwechslung einen gewissen Unterhaltungsfaktor. Das liegt auch an der stilsicheren optischen Umsetzung.
Schon bei Dark waren wir von Kamera, Settings und Ausstattung ausgesprochen angetan. Eine gute Optik ist eben oft unverzichtbar – und die kommt auch bei Tribes of Europa – Staffel 1 zum Tragen. Zunächst einmal sind vor allem die Schauplätze imposant: zerstörte Fabriken, ein desolat-pompöses Berlin, riesige Holzbauten in den Wäldern und bedrohliche Verliese. Dazu gesellen sich stimmige Kostüme, die an manchen Stellen zwar an der Karikatur kratzen, jedoch vor allem als augenzwinkernde Referenz an die zahlreichen Vorbilder der Serie verstanden werden wollen.
Während sich die Special Effects im soliden oberen Mittelfeld bewegen, ist vor allem die Kamera-Arbeit zu loben. Mit Weitwinkelobjektiv fängt sie beständig das oft hektische, actionlastige Geschehen ein. Das erinnert stark an Emmanuel Lubezkis fantastische Arbeit in The Revenant, wobei die teils minutenlangen Plansequenzen gelegentlich eher Dynamik entziehen, als die Unmittelbarkeit der Szene zu forcieren. Schick sieht es trotzdem aus! Die deutlichen Defizite in anderen Bereichen überspielt das jedoch nicht.
Ärgerlich hingegen sind die Dialoge in Tribes of Europa – Staffel 1. Schon zu Beginn wird so viel erklärt und unnötig plakativ ausgeführt, dass die Lust am Entdecken des neuartigen Europas schnell flöten geht. Zu sehr möchte das Autor*innen-Team, dass wir jedes Detail seiner Serienwelt verstehen. Viel spannender wäre es jedoch gewesen, uns einfach kommentarlos mit hineinzunehmen und anhand der Handlung selbst das Bild vervollständigen zu lassen. „Show, don’t tell“ war nie nötiger als in den ersten Folgen der Staffel.
Zudem sind die Sätze, die da gesprochen werden, auch fern jeglicher Alltagsnähe. Verkopfte Formulierungen, unglaubwürdige Phrasen und schlicht überflüssige Füllwörter lassen das hölzerne Drehbuch bersten. Das merkt man selbst einem Routinier wie Oliver Masucci an, der mühsam gegen die Künstlichkeit seines Textes ankämpft. Vielen anderen Schauspielenden will das hingegen gar nicht gelingen.
Einerseits ist es Masuccis Gegenüber, David Ali Rashed, der mit übertriebener Mimik leider „typisch deutsch“ und damit wenig überzeugend spielt. Henriette Confurius bekommt das schon besser hin, wobei sie vor allem unter dem uninteressantesten Sub-Plot leidet. Nur Emilio Sakraya weiß es, durchgehend mit einem zunehmend intensiveren Schauspiel zu überzeugen, wobei auch sein Kollege Leonard Kunz in einem etwas kürzeren Auftritt gelobt werden soll. Insgesamt ist Tribes of Europa – Staffel 1 schauspielerisch jedoch ein hit-and-miss. Das hat Dark besser hinbekommen.
Was die Story, Dialoge, Schauspiel und Logik der deutschen Endzeit-Serie anbelangt, so gibt es offensichtliche Mäkel, die zeitweise sehr störend wirken. Zu viel wird erklärt, zu inkonsequent und unglaubwürdig ist das Worldbuilding, zu künstlich klingt die Sprache der Figuren. Dem gegenüber steht ein unterhaltsames Pacing, tolle Settings, stimmige Kostüme und eindrucksvolle Kamera-Arbeit, die wie eine Huldigung an offensichtliche filmische Vorbilder agieren. Insgesamt ist Tribes of Europa – Staffel 1 ein kurzweiliger, jedoch arg zerfahrener Genre-Mix, bei dem von Mad Max bis hin zu The Matrix und Children of Men alles referenziert wird, was bei drei nicht auf den Bäumen ist. Das kann man sich sechs meist unterhaltsame Folgen lang anschauen, doch lässt die Serie in all ihren Querverweisen einen eigenständigen Charakter schmerzlich vermissen.
Artikel vom 7. April 2021
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