Kritik: Saint Omer
Schuldig, aber…
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Die Journalistin Rama (Kayije Kagame) schreibt an einem Buch über einen verstörenden Fall: Die junge Mutter Laurence (Guslagie Malanda) hat ihr 15 Monate altes Baby heimlich am Strand der Flut ausgesetzt und ist nun des Mordes angeklagt. Rama reist zur Gerichtsverhandlung in der die Schuldfähigkeit geklärt werden soll. In langen Befragungen wird die Herkunft, das Umfeld und der Tathergang erörtert, um zu beantworten, wie es zu der unbegreiflichen Tat kam. In den Ausführungen der jungen Studentin Laurence, die vor Jahren aus dem Senegal kam und Schwierigkeiten hat, in Frankreich anzukommen, erkennt sich Rama selbst wieder.
In einer strafrechtlichen Ermittlung geht es immer um sogenannte W-Fragen: Wer? Wann? Was? Wie? Am Ende, wenn Schuldige und Tathergang ermittelt sind, steht dann die letzte, ausschlaggebende Frage: „Warum?“ Mit dieser Frage verlassen wir dokumentarischen Boden und bewegen uns in den philosophischen Raum. Menschen fügen einander auf unzählige Arten Schaden zu – doch warum? Auch in diesem, bis auf den Kern heruntergebrochene Justiz-Drama dominiert diese Frage und führt bereits früh zu einer Schlüsselszene. Als sich die Richterin mit eben jener Frage an die Angeklagte Laurence wendet, antwortet jene: „Ich weiß es nicht, doch hoffe, es in diesem Prozess herauszufinden.“
Saint Omer ist kein gewöhnliches Gerichtsdrama. „Gewöhnliche“ Filme über Rechtsprozesse sind spektakulär, emotional aufgeladen, sie suchen die Schuldigen. Doch die Schuldige ist bereits gefunden und geständig. Für Regisseurin Alice Diop beginnt der Fall hier erst an. Das „Warum“ schwebt über den zwei Stunden, die sich großzügig ausbreiten und ein dokumentarisches Bild des Gerichtsprozesses aufzeichnen. Ruhige Bilder, wenige Schnitte. Beim dem Drehbuch zugrundeliegenden, realen Fall war die Regisseurin im Saal anwesend und setzt in Saint Omer nun ihre Erinnerungen um. Kamerafrau Claire Mathon (Spencer, Porträt einer jungen Frau in Flammen) imitiert eine Beobachterin, die Sprecher:innen in den Blick nimmt, auf Gesichtern verharrt, Mimik zu lesen versucht. Sitzbänke knartschen, die Holzvertäfelung dämpft die Akustik, am Fenster vorbeiziehende Wolken werfen Schatten auf Gesichter. Es sind solche inszenierten Kleinigkeiten, die aus einer Kulisse ein Stück Lebenswelt machen.
Der dramaturgische Ton ist ruhig, keine Emotion trüb den objektiven Blick auf den Fall. Vor allem die des Mordes angeklagte Laurence ist undurchdringlich und zurückhaltend. In Pose, Stimme und Kleidung ist sie dermaßen unscheinbar, dass man glaubt, sie habe als Migrantin aus dem Senegal diese diskrete Art zu leben verinnerlicht – unsichtbar, rechtschaffen, unmündig. Im Alltag verlässt sie kaum das Haus, im Saal verschmilzt sie mit der Umgebung. Naturgemäß ist sie als Angeklagte der Fixpunkt der Geschichte, doch macht Schauspielerin Guslagie Malanda sie darüber hinaus zu einem Symbol der Handlung selbst – sie bleibt bis zuletzt unverständlich und doch können wir uns nicht entziehen.
Mit der Angeklagten Laurence als Fixpunkt wird Journalistin Rama zum Fernrohr. Als zunächst Außenstehende tritt sie näher und näher an Laurence heran. Gemeinsam mit Rama entdecken Zuschauer:innen den Fall, sind nicht ausschließlich dem objektiven Faktenhagel ausgesetzt sondern können durch die zur Seite gestellte Figur Eindrücke einordnen und emotional verarbeiten. Schließlich haben wir uns Laurence angenähert, für Rama gerät die Annäherung jedoch zu nahe. Im Verlauf der Ermittlungen gegen Laurence entdeckt sie Gemeinsamkeiten in ihren Lebensläufen, in ihrem Gesicht wird zunehmend das Unbehagen lesbar. Das Drehbuch vollzieht so eine kunstvolle Täuschung: Zunächst fühlen wir uns der Journalistin verbündet und beobachten gemeinsam mit ihr, um uns im Laufe des Prozesses dann doch von ihr zu entfremden und erkennen müssen: wir sehen dasselbe wie Rama, doch dasselbe fühlen können wir nicht. Wie bereits erwähnt, war Regisseurin Diop beim realen Fall selbst Zuschauerin, die Figur Rama ist also quasi ein Reenactment, in dem die Regisseurin zur Figur in ihrem eigenen Film wird.
Eine Fremde, die übers Meer kam, die Liebe ihres Partners ist erkaltet, ein Kindsmord und der Verdacht der Hexerei – Laurences Geschichte weißt deutliche Parallelen zum Medea-Mythos auf. So versucht der Film, dieses Werk als Schlüssel anzuwenden, obwohl das Schloss nicht passt.
Der Sachverhalt ist unglaublich komplex und, so ambivalent der Film sich ihm auch nähert, neigt er schließlich doch zu grober Vereinfachung. Etwas suggestiv drängt er Laurence in eine passive Opferrolle, beendet den Film mit dem Plädoyer ihrer Verteidigung, ohne der Gegenstimme ernsthaften Raum zu geben. Für die dramaturgische Verbindung zwischen Rama und Laurence funktioniert das. Die multiplen Belastungen als Tochter, Geliebte, Migrantin und zuletzt Mutter üben einen ungeheuren Druck aus, den auch Rama und die Regisseurin spüren.
Aus justizieller Sicht ist diese vereinfachte Schlussfolgerung jedoch fatal. Saint Omer ist bis zur letzten Konsequenz ein außergewöhnliches Justizdrama, das mit dem „Warum?“ beginnt und auch nach Abschluss der Verhandlung hunderte Fragezeichen zurücklässt.
In langsamen, atmosphärisch dichten Bildern erzählt das Justizdrama von einem philosophischen Fall, legt dabei den Schwerpunkt jedoch weniger auf die Tat als auf die Täterin. Die Erkundung von Laurence als traumatisierte Frau wird zum Spiegel der Hauptfigur, in welcher die Regisseurin eine Version ihrer selbst inszeniert. Die komplexe Sachlage mündet leider in einem vereinfachten, suggestiven Ende, welches im Storytelling konsequent ist, in Bezug auf den realen Fall aber unbefriedigend.
Artikel vom 18. März 2023
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