7.8/10

Kritik: Die Saat des heiligen Feigenbaums

SCHMERZENDES HINSEHEN

Genres: Drama, Startdatum: 26.12.2024

Interessante Fakten für…

  • Da Regisseur Rasulof im Exil in Hamburg lebt, tritt sein Film als deutscher Oscar-Kandidat an. Es ist der erste, vollständig fremdsprachliche, deutsche Beitrag.
  • Der Film schaffte es auf die jährlich veröffentlichte Liste von Barack Obamas Lieblingsfilmen.

Ein umstrittener Oscar-Kandidat, aber dennoch ein guter Film. Die “Frau, Leben, Freiheit” – Bewegung lebt und Mohammad Rasulof, der sich um seine Heimat sorgt, richtet den Scheinwerfer auf sie. Klassische Hollywood-Spannung scheut er nicht.

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#Kinogänger #Klassiker #Trashfan

Darum geht’s

Es gibt etwas zu feiern: Iman (Missagh Zareh) wird befördert und der soziale Aufstieg steht bevor. Doch die Schattenseiten seiner Arbeit für den iranischen Staat lassen sich vor der Familie nicht verbergen. Vor allem seine Töchter Rezvan (Mahsa Rostami) und Sana (Setareh Maleki) hadern mit der Karriere ihres Vaters. Sie zweifeln an dem Wohlwollen ihrer Regierung, die Gewalt gegen die “Frau, Leben, Freiheit” – Bewegung füllt ihre Feeds. Die Familie steht unter Spannung, aus kritischen Fragen wird offenes Aufbegehren gegen die Eltern, dem der Vater mit zunehmender Autorität begegnet. Als Imans Dienstwaffe verschwindet und er Konsequenzen befürchtet, entlädt sich der Druck.

Kino und Politik

Politisches Kino ist besonders gut, wenn es spannend ist, doch spannend ist es viel zu selten. Filmemacher:innen zieren sich, Ernstes und Unterhaltsames zu verbinden und befürchten, die wichtigen Aussagen mit packender Inszenierung zu kompromittieren. Mohammad Rasulof gelingt es in seinem neuen Film, Botschaft und Spannung zusammenzuführen, ohne, dass das eine vom andern ablenkt. Aus den ersten Szenen erwächst ein Drama, das alle Ebenen der betrachteten Gesellschaft umfasst. Iman wird befördert, der finanzielle und soziale Aufstieg lockt. Seine Frau freut sich auf die ersehnte Spülmaschine, den Töchtern verspricht sie den Umzug in eine bessere Nachbarschaft, in welcher sie dann endlich von “Leuten wie uns” umgeben seien.

Obwohl sich die Töchter auf eigene Zimmer freuen, hält sich ihre Freude in Grenzen. Im großen Strauß von Themen widmet sich das Drehbuch der Betrachtung der Generationsunterschiede im Iran. Die Eltern sind in der islamischen Republik aufgewachsen, die Töchter im Internet. Das Aufstiegsversprechen lockt sie nicht, denn sie sehen die hässliche Seite des maroden Staats. Am Abendbrottisch kommt es zum Streit, die Tür zum Kinderzimmer ist nun immer häufiger verschlossen, von innen hört man dumpf Instagram-Reels spielen. Die Einigkeit der Familie zerbricht, obwohl die Mutter sie religiös beschwört und der Vater sie zu erzwingen versucht.

Religiöse Männlichkeit

Natürlich spielt die Religion eine Rolle, wie sollte sie sich ausblenden lassen. Doch entpuppen sich die Schwüre, Gebete und Glaubensbekundungen zunehmend als leere Phrasen, die im Widerspruch zum Handeln der Figuren stehen. Die Unterdrückung der Frau, welche sich zum zentralen Thema des Films entwickelt, wird eher durch Misogynie als Religion begründet. Zwar stehen die Zwänge unter denen die Töchter Rezvan und Sana leiden, auf Säulen der Religion – “weil Gott es so will”, “weil wir es immer so gemacht haben”, “weil es so geschrieben steht” sind die Phrasen, mit denen die Frauen auf der Straße zurück hinter verschlossene Türen getrieben werden. Gestützt wird das System aber von Müttern und Großmüttern, die ihren Kindern ein besseres Leben wünschen, dabei jedoch an besagte Spülmaschine oder einen gut gestellten Gatten denken.

Doch die Hand, die den Knüppel schwingt, das Urteil unterschreibt und den Zellenschlüssel dreht, ist eine männliche. Alle Machtpositionen des Films sind männlich besetzt und das Drama entwickelt eine toxisch männliche Dynamik. Vater Iman steht unter einem Druck, der die Ansprüche der alten und neuen Welt vereint: Im archaischen Familienverständnis muss er spirituelles Vorbild sein, im wirtschaftlich fragilen System aber auch die Lohntüte heimbringen. Zu Beginn hadert Iman mit der neuen Position, wir erkennen einen moralischen Bürokraten. Doch unterm Druck des Systems zerbricht er. Als ihm, symbolisch klug in Form einer Schusswaffe ausgedrückt, die Manneskraft geraubt wird, wechselt er in den instinktgetriebenen Kampfmodus.

Neue Generation

Das Finale, welches in seiner klaustrophobischen Spannung an The Shining erinnert, entmenschlicht den Vater. Mutter Najmeh dagegen blüht auf. Als die Familie der Stadt entflieht und sich auf dem Landsitz die Lage zuspitzt, verwirft sie die mütterliche Rolle, die ihr gesellschaftlich zugedacht ist und entwickelt ihre eigene. Im Mienenspiel von Soheila Golestani sehen wir regelrecht die Gesichtszüge auftauen. Doch vor allem Mahsa Rostami als Tochter Rezvan bleibt im Gedächtnis als Symbolfigur der neuen Generation Iranerinnen.

Sie liebt ihre Familie, doch muss sich abnabeln, für das Wohl all ihrer Mitmenschen. Der Film lässt die reale Welt in die Fiktion einsickern: Quasi über die Schultern der Töchter sehen wir in Handyvideos die Vorgänge auf der Straße nach Jina Mahsa Aminis Tod. Wir hören die Fragen, die sich die jungen Mädchen stellen, am Abendbrottisch, auf der Straße, damals wie heute. Die gewaltvollen Straßenszenen sind schwerer zu ertragen als der Gore von The Substance oder der dunkle Schleier der Geschichte in The Zone of Interest. Sie sind unmittelbar, rau und nicht inszeniert, sie sehen, was Menschen täglich sehen: Wie ihre Mitbürgerinnen gedemütigt und geschlagen werden, wie sie in Transportern ins Nichts verschwinden. Diese rauen Aufnahmen und Emotionen einer ganzen Generation zu bündeln und auf die Leinwand zu bringen, ist die große Leistung des Films.

Fazit

7.8/10
Gut
Community-Rating:
Handlung 8/10
Schauspiel 8/10
Spannung 7.5/10
Atmosphäre 8/10
Tiefgang 7.5/10
Details:
Regisseur: Mohammad Rasulof,
FSK: 16 Filmlänge: 168 Min
Besetzung: Mahsa Rostami, Missagh Zareh, Setareh Maleki, Soheila Golestani,

Die Nominierung als deutscher Oscar-Beitrag darf und muss unbedingt kritisiert werden. Doch der Film steht für sich. Wie bereits in Doch das Böse gibt es nicht bringt Mohammad Rasulof seine Liebe und seine Ängste für sein Heimatland auf die Leinwand. Feinfühlig erzählt er von den komplexen Machtstrukturen des Irans und tastet sich bis zum Individuum vor. Wir erleben ein System in dem jede:r zugleich Geisel und Geiselnehmer:in ist. Die große Leistung ist, dass es der Crew gelingt, einen Film umzusetzen, der spannend ist und sogar mit einem Western-Finale aufwartet, ohne seine Botschaft zu kompromittieren. Gerne mehr davon!

Artikel vom 2. Januar 2025

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