8.1/10

Kritik: Petrov’s Flu

In der postsowjetischen Geisterbahn

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Genres: Drama, Mystery, Startdatum: 26.01.2023

Interessante Fakten für…

  • Regisseur Kirill Serebrennikow begann die Arbeit am Film direkt nach seiner Entlassung aus dem regierungsverordneten Hausarrest.
  • Der Film erhielt, trotz einiger explizit gewaltvollen Szenen, eine FSK 16-Freigabe, da die Kommission der Meinung war, der surreale Ton des Films schaffe Distanz zum Gesehenen und sei dadurch leichter zu verarbeiten.

Russland ist ein großes, manchmal beängstigendes Geheimnis. Einer seiner wichtigsten zeitgenössischen Regisseure gräbt sich durch unzählige Szenen und Schichten zum Kern einer Gesellschaft vor, in der seit Jahrzehnten Hoffnungen aufkeimen und sterben.

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#Kinogänger #Klassiker #Trashfan

Darum geht’s

Es ist russischer Winter um die Jahrtausendwende, die Grippe geht um und hat Petrow (Semjon Sersin) und seine Frau (Tschulpan Chamatowa) voll erwischt. Doch das Bett hüten wollen die beiden nicht. Petrow stolpert hustend durch die Stadt, trifft in überfüllten Bussen auf eigenartige Mitbürger:innen und seinen Freund Igor (Juri Kolokonikow), der ihn auf einen Wodka im Leichenwagen einlädt. Immer stärker werden die Fieberträume, bald werden unterbewusste Fantasien real und Figuren aus längst vergangenen Tagen werden lebendig. So auch Marina (Yulia Peresild), einer jungen Schauspielerin, der Petrow als Kind begegnete.

Wodka und Aspirin

Im neonbeleuchteten Schneematsch Jekaterinburgs will man wirklich keinen Urlaub verbringen. Es ist die Zeit um die Jahrtausendwende: während in Europa Aufbruchsstimmung herrscht, spürt man an jeder Ecke den postsowjetischen Blues, die Zukunftsangst, die Skepsis gegenüber Einwanderern, das Sehnen nach einer Vergangenheit, in der nicht alles gut war, aber man immerhin auf Kosten der Gewerkschaft auf Kur fahren konnte. Diese Stadt, dieses Land, in dem Petrow und seine Familie leben, scheint unbegrenzte Möglichkeiten zu haben: entstehend aus dem Nichts, auf Hinterhöfen oder auf dem kurzen Dienstweg, doch wird letztlich keine dieser Möglichkeiten jemals Realität.

Kirill Serebrennikow kennt die Bedeutung der 1990er Jahre für die Entwicklung der russischen Gesellschaft und verfilmt das Bindeglied zwischen der UdSSR und dem modernen Russland, welches wir zu kennen glauben, von dem wir aber immer wieder erschreckt sind. Die frustrierten Verlierer der Wende, der Aufstieg skrupelloser Krimineller, die alltägliche Gewalt – Aus all dem entwächst der paranoide Staat, der die Weltpolitik wie einen Fiebertraum erlebt und hinter jeder Ecke Verschwörungen wittert. In wahnwitziger Tagträumen, die er schon im Musiker-Biopic Leto auf die Leinwand brachte, schickt uns der Regisseur durch die russische Geisterbahn, begleitet von Figuren die kaum zur Identifikation taugen und von einer Szene in die nächste taumeln.

Überschneidende Kreise

Die Vielfalt an Szenenbildern, Stimmungen und Emotionen ist riesig, man fühlt sich wie bei einem Spaziergang über einen Studiokomplex. In manchen Momenten wird minutenlang verweilt, andere verändern sich quasi beim Hindurchschreiten. 2 ½ Stunden strömen vorüber, doch ist es hier das Gegenteil von slow cinema, in jeder Szene fliegen Eindrücke von der Leinwand in den Saal, Figuren wirken, als hätten wir sie schon mal gesehen, doch ziehen schon wieder vorbei – Das Filmerlebnis wird zum Fieberwahn.

Die Familie Petrow liegt mit der Grippe flach, oder, besser gesagt: sie sollte flachliegen. Stattdessen ziehen sie umher. Petrow jr. geht zur Neujahrsfeier, um mit seinen Freunden zu feiern, dass sie von den Problemen Erwachsener nichts verstehen. Ehefrau Petrowa erlebt im Fieber Halluzination, die sie erschaudern lassen. Als ob unterdrückte, unterbewusste Gedanken an die Oberfläche drängen, sieht sie sich selbst in Szenen, in denen sie anderen Menschen Gewalt antut. Überhaupt, Gewalt: immer schwebt sie über allem. Nicht als unkontrollierte Gefahr, sondern Bestandteil normaler Kommunikation – Da mündet dann schon mal der Vortrag eines Dichters in der Bibliothek in einem Handgemenge.

Petrow selbst erwischt es am schlimmsten, sein Schlafwandel durch Jekaterinburg ist derart irritierend, dass nur noch schwer festzuhalten ist, wo die Realität endet und die Reise ins Unterbewusste beginnt. Die Hauptfigur streift durch die Rückblenden der eigenen Geschichte, trifft frühere Ichs – oder die Personen, die er früher gerne gewesen wäre. Der unzurechnungsfähige Igor, den er gerade noch abschütteln konnte, taucht plötzlich auf der Silvesterfeier seines Sohnes wieder auf. Und während er an einem Comic über einen Jungen arbeitet, der von einem UFO entführt wird, erzählt plötzlich eine Frau im Bus von ihren eigenen Alien-Begegnungen. Alle Kreise überschneiden sich – selbst wenn sie nur von Petrows Kopf ausgehen.

Tauchfahrt in die Vergangenheit

Dieses Spiel mit Unterbewusstem und Erinnerungen wird so weit getrieben, dass wir spät im Film sogar kurzzeitig der Hauptfigur Lebewohl sagen, um mehr Zeit mit den Gespenstern seiner Vergangenheit zu verbringen. Unglaublich, wie der Film es schafft, nach 90 Minuten Spielzeit 25 Jahre in der Zeit zurückzureisen, das Setting komplett zu drehen und dennoch die Aufmerksamkeit zu behalten. Marina ist eine junge Akademikerin im Sowjetstaat, in dem der Schnee noch weiß und die Menschen noch hilfsbereit waren. Ihrem Freund zuliebe schlüpft sie im örtlichen Theater für die Kinder ins Schneeflöckchen-Kostüm und diese Marina ist, wie wir bald begreifen herausfinden, genau jene Eisprinzessin, von welcher der junge Petrow als Kind so fasziniert war.

Sie spricht Englisch, hat große Träume, will etwas erreichen, doch wird vom Schicksal getroffen und schafft es schließlich nicht einmal mehr auf dem Kinderfest, die gute Mine zu wahren. Auch sie hatte damals unendliche Möglichkeiten, die aber doch unerreichbar bleiben. Dieser Blick in Petrows Kindheit durch die Augen einer jungen Frau schließt den Kreis und komplettiert seine Biographie. Auch er hatte große Pläne, in einem seiner Fieberträume begegnet er einem „Freund“ mit großen literarischen Ambitionen. Später wundern wir uns, ob es diesen Freund wirklich gibt oder der Comiczeichner Petrow, der eigentlich lieber Romanautor wäre, hier mit sich selbst ins Gericht geht.

Dem Film gelingt es, seine Hauptfigur in allen Facetten zu beschreiben, ohne sie erklären zu müssen. Die Fülle an Szenen und Fantasie ist unglaublich und dringt vor in ein Land, welches Im Jahr 1977 zuckerbunt und schneeweiß war, aber Menschen hinter verschlossenen Türen erdrückte. Ein Land, in dem in den 1990er das Chaos regierte und es manches mal schwer schien, zwischen Realität und gewaltvollem Tagtraum zu unterscheiden.

Russland kann man von außen nicht verstehen. Aber man kann sich dem Strudel dieses Films hingeben, um sich noch mehr zu verirren. Vielleicht ist der beste Weg nicht geradeaus, sondern in Kreisen, durch Zeit und Unterbewusstsein.

Fazit

8.1/10
Stark
Community-Rating: (1 Votes)
Szenenbild 8/10
Visuelle Umsetzung 8.5/10
Atmosphäre 8/10
Schauspiel 8.5/10
Handlung 7.5/10
Details:
Regisseur: Kirill Serebrennikow,
FSK: 16 Filmlänge: 151 Min.
Besetzung: Semjon Sersin, Tschulpan Chamatowa, Yulia Peresild,

Dieser Trip ist eine Herausforderung an das Publikum. In unzähligen Minuten und Szenen geht es im fiebrigen Taumel durch prägende Jahre der russischen Moderne. Weder dokumentarisch noch dramatisch wählt der Film einen Sonderweg und lässt der Fantasie der Hauptfiguren freien Lauf. Im Vorbeiziehen lernen wir viele Menschen kennen, jedoch lernen wir nur die wenigsten so gut kennen, wie wir gerne würden. Obwohl die experimentelle Erzählweise beeindruckt, hetzt sie manchmal doch sehr. Doch alles in allem ein genial inszeniertes Durcheinander.

Artikel vom 31. Januar 2023

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