‘El Chapo’ tritt in gigantische Fußstapfen
Ob man nun will oder nicht: El Chapo muss sich gegen den Serien-Titan Narcos beweisen. Zwar bietet die Geschichte ausreichend eigenen Stoff, um sich inhaltlich in neue Gewässer zu begeben, doch die Grundthematik bleibt dieselbe. Ebenso das südamerikanische Setting, die spanisch sprechenden Akteure und der gelegentliche Shootout mit der Exekutive. Nein, El Chapo bietet freilich nichts neues. Im Gegenteil. Mehr als einmal musste ich mir eingestehen: “Das habe ich in Narcos besser gesehen.”
Zwar sind die Macher der Serie bemüht, historisches Filmmaterial einfließen zu lassen, doch ein dokumentarischer Charakter wird nie erreicht. Stattdessen werden El Chapos Lebensstationen recht linear abgefrühstückt. Das funktioniert zwar ordentlich, man wird jedoch nicht gerade mit kreativen Storytelling-Ideen verwöhnt.
In Narcos haben wir DEA-Agent Stephen Murphy als Identifikationsfigur, der den Zuschauer in die uns fremde Welt mit seinen Off-Kommentaren eingeführt und damit auch der Serie einen erzählerischen roten Faden verliehen hat. In El Chapo ist der Fokus ganz auf unserem (Anti-)Helden. Das Problem: der Protagonist geht nicht auf…
Ein Drogenbaron ohne Charisma
Joaquín “El Chapo” Guzmán ist freilich kein Filmheld: er ist ein arroganter Mörder mit großer Klappe. Natürlich fällt es mir als Zuschauer damit schwerer, mit ihm mitzufiebern – aber das hat mich in Narcos auch nicht davon abgehalten. Streckenweise gelingt es der Serie, einen Hauch Empathie aufkeimen zu lassen, doch die meiste Zeit lässt mich das Schicksal unseres “Helden” kalt. Nicht zuletzt, weil uns die antreibende Motivation des Protagonisten, der größte Drogenboss aller Zeiten zu werden, viel zu spät mitgeteilt wird. Und selbst dann kann man fast nur ungläubig mit dem Kopf schütteln. Das geht auf die Kappe der Drehbuchautoren.
Warum unsere titelgebende Figur nicht funktioniert liegt jedoch auch daran, dass Marco de la O in seiner Performance wenig überzeugt. Seine Gesichtsausdrücke wechseln von stoisch zu überheblich und wieder zurück. Obwohl das dem Charakter des Vorbilds womöglich gerecht wird, vermisse ich die emotionale Tiefe und das komplexe Innenleben des von Wagner Moura meisterlich dargestellten Pablo Escobar. Ein Bösewicht mit vielschichtiger Persönlichkeit? Das sollte doch mittlerweile zum Inventar gehören!
El Chapo zieht hier nicht nur den kürzeren, der Serie fehlt oftmals jeglicher Bezugspunkt zur Figur und jegliches Charisma in ihrer Darstellung. Erst gegen Ende hin bekommt sie einen Hauch Tiefe – doch da haben die meisten längst abgeschaltet. Schade. Ein Protagonist, um den man sich nicht einen Dreck schert, ist leider in der Welt der Bewegtbilder nicht zu gebrauchen.
¡Viva México!
Womit viele Netflix Originals bisher glänzen konnten, ist die Liebe zur Ausstattung und das Händchen für Atmosphäre. Und da ist El Chapo keine Ausnahme. Das Setting, die Kostüme, die Retro-Autos im Hintergrund, die mexikanischen Volkslieder, die ständig aus irgendeinem Lautsprecher schmettern – die Welt, in die wir hineingenommen werden, überzeugt auf ganzer Linie. Zwar bekommen wir nur gelegentlich die Weite der vielseitigen Landschaft Mexikos mit, doch atmosphärisch ist das allemal. Von der Bonzenvilla bis hin zum mexikanischen Gefängnistrakt – hier stimmt alles!
Auch was die Gewaltdarstellung anbelangt macht Netflix keine Gefangenen. Die Actionsequenzen sind dicht inszeniert und gelegentlich enorm brutal. Spätestens, wenn die Familie eines Schmugglers enthauptet und ertränkt wird, geht das an die Substanz. Nein, in so einen Drogenkrieg möchte man nicht geraten. Hier zeigt sich eine der wenigen großen Stärke der Serie.
Für alle, die bei Narcos schon einen Anfall bekommen haben, weil sie ihr Schulspanisch rauskramen oder zumindest Untertitel mitlesen mussten: schlechte Nachrichten! In El Chapo wird Spanisch gesprochen. Und zwar ausschließlich! Für die einen ist das authentisch, für die anderen ein Grund, die Finger von der Serie zu lassen.
Der geheime Star: Korruption
Um ein letztes Mal den Vergleich mit Narcos zu bemühen: die “Guten”, wie der kolumbianische Präsident oder das DEA-Department, gibt es in El Chapo nicht. Dies bedeutet, dass man es durchgehend mit knallharten, wenig sympathischen Charakteren zu tun hat und man oftmals erschreckend gleichgültig den Leinwandtod dieser Figuren in Kauf nimmt. Doch gleichzeitig ist dies auch eine der großen Stärken von El Chapo: jeder hat Dreck am Stecken. Keinem kann vertraut werden.
Nach und nach zeichnet sich ab, dass Kollegen, Politiker, selbst die Familie gleichermaßen korrupt und verdorben sind. Hier wird schnell die Frage aufgeworfen: wie gesund kann ein Staat sein, dessen Mitglieder bis auf die Knochen käuflich sind? Obgleich El Chapo als Biopic weitestgehend scheitert, hallt dieser bittere Nachgeschmack einer zerfressenen Nation noch länger nach.
Gerade in den letzten drei Folgen wird deutlich, was passiert, wenn eine Person in die Zange der Staatsgewalt gerät. Ohne zu viel zu spoilern: das Ende von El Chapo ist stark inszeniert und schafft es erstmals, ein wenig Mitgefühl für unseren (fragwürdigen) Helden zu erzeugen. Wenn die Macher diese Energie und fast schon physisch spürbare Gewalt in der nächsten Staffel aufgreifen, könnte sich El Chapo ganz vielleicht doch noch zu etwas sehenswertem entwickeln.
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