Kritik: The Expanse – Staffel 4
SCI-FI GEHT AUCH OHNE SYFY
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Die Menschen des Sonnensystems sind außer sich: Nachdem sich ein mysteriöses Weltraum-Portal zu über 300 neuen, habitablen Planeten geöffnet hat, weiß keine Fraktion so genau, wie sie mit dem bevorstehenden “Goldrausch” umgehen soll. Nur eine mutige Gruppe von Gürtler-Flüchtlingen stürzt sich Hals über Kopf in das Abenteuer und besiedelt einen neuen Planeten namens “Ilos”.
Terraner, Marsianer und einige Gürtler sind darüber nicht erfreut. Solange kein Plan besteht, wie mit der aktuellen Situation umzugehen ist, bleibt das Portal nämlich für alle Parteien abgeriegelt.
Secretary-General der Vereinten Nationen Avarasala (Shohreh Aghdashlo) schickt die Crew der Rocinante auf den Planeten Ilos, um die flüchtigen Gürtler am Leben zu erhalten. In der Siedlung entstehen jedoch unerwartete Spannungen aus dem Inneren und mysteriöse Gefahren von außen. Denn das gefährliche Protomolekül scheint auf Ilos zu Hause zu sein…
Wir stellen uns zwei Fragen: Macht sich der Sender-Wechsel von SyFy zu Amazon bemerkbar und behält die Serie ihre Stärken bei? Schließlich ist The Expanse seit Staffel 1 im konstanten Aufstieg. Über 30 Folgen und kein einziger Durchhänger. Das muss eine Serie erstmal schaffen.
Mit zehn Folgen ist die vierte Staffel aus Amazons Geldbeutel ganze drei Folgen kürzer als die vorherigen Staffeln. Außerdem: Das erste Mal in der Geschichte der Serie sind Staffel und Buchvorlage deckungsgleich. Während in den vorherigen Staffeln meistens zur Mitte ein Break zwischen den Büchern stattfand, was zu unerwartet dramatischen Höhepunkten zur Staffel-Halbzeit geführt hat, konzentrieren sich die neuen zehn Folgen voll und ganz auf das vierte Buch Cibola Burn.
Blockbuster-Format
Staffel 4 entführt uns in das neue Setting Ilus, ein erdähnlicher und dennoch trostloser Planet, der von Amazon erstaunlich bildgewaltig und atmosphärisch in Szene gesetzt wurde. Alle Szenen der Ilus-Handlung wurden in einem breiten Kinoformat (2,39:1) gedreht, wodurch die Szenen noch cinematischer und wie ein echter Blockbuster aussehen.
Alle anderen Szenen wurden weiterhin im üblichen 16:9 Format gedreht, was am Anfang noch verwirrt, da es sich wie ein interner Stilbruch anfühlt. Doch die verschiedenen Seitenverhältnisse etablieren sich schnell als Storytelling-Stütze, da man nach Handlungssprüngen sofort weiß, in welcher Welt man sich nun befindet.
In Staffel 4 sind die Settings, die Handlungsbögen und die Charaktere sorgfältig abgesteckt, beinahe übersichtlich. Alles fühlt sich ein bisschen kleiner und konzentrierter an. Das klaustrophobische Setting der Mars-Station und die gähnende Leere auf Ilus sind wie Spielfelder, auf denen sich die Handlung austoben darf.
Den vorherigen Staffeln fehlte diese Einheitlichkeit. SyFy verfolgte mit The Expanse in erster Linie ein “Folge-pro-Woche”-Konzept. Verständnis für das Format “Staffel” gab es noch nicht. In Zeiten des Bingewatchings, die den Konsum von Serien komplett neu definieren, geht Amazon nun den modernen Weg und präsentiert eine Staffel, die sich wie ein sehr langer Science-Fiction-Film anfühlt; ein verdammt guter noch dazu.
Die größte Stärke der neuen Staffel ist die konstant anschwellende Spannung. Jede einzelne der zehn Folgen hält das Erzähltempo aufrecht, ohne unnötig aufs Gaspedal zu drücken. Fiese Cliffhanger, spannende Mysterien und Charaktere, die einem ans Herz wachsen, ständig in der Zwickmühle moralischer Konflikte, die uns als Zuschauer selbst grübeln lassen. Die Drehbuchautoren leisten hier Arbeit der Meisterklasse.
Besonders dramatisch ist die langsame Eskalation in der Siedlung auf Ilus, in der zwei Parteien ums nackte Überleben kämpfen und zusätzlich gegen einen übermächtigen Alien-Feind. Die Absurditäten des extra-terrestischen Protomoleküls werden in Staffel 4 weiter ausgebaut, erreichen aber zu keinem Zeitpunkt das Nerd-Level eines Star Trek oder Doctor Who. Dadurch fühlt sich The Expanse deutlich geerdeter an (Wortspiel verstanden?) als seine Sci-Fi-Brüder.
Die Zukunft in The Expanse fühlt sich nie nach Plastik oder Fasching an, sondern spinnt bereits existente Konflikte unserer Gesellschaft weiter fort. Wie manipulativ ein Wahlkampf abläuft und wie Berichterstattung die Menschen manipuliert, erfahren wir in General Avarasalas Politik-Scharaden auf erstaunlich nachvollziehbare Weise.
Als Zuschauer fällt es einem nahezu unmöglich, die unterschiedlichen Fraktionen moralisch zu bewerten, denn jede Partei, bzw. jeder Charakter hat von seiner Perspektive aus gesehen Recht. In einer besonders komplizierten Lage befinden sich die unterdrückten Gürtler, die auf dem neuen Planeten eine Heimat für alle gründen könnten, aber im Gegenzug für einen Friedenspakt mit den Terranern erst einmal die Füße stillhalten müssen. Frieden wahren oder Goldgrube plündern? Schwere Entscheidung.
Etwas weniger glaubwürdig ist dagegen die Entwicklung von idealistischer Mars-Soldatin Bobby in eine krumme Waffen-Dealerin. Der Nebenplot ist aufgrund von Neuzugang Esai (Paul Schulze) als korrupter Cop immer noch interessant genug, erweist sich aber als schwächster Handlungsstrang der Staffel, da er wie eine dramaturgische Überbrückungsphase wirkt, bis Bobby wieder mit der Crew der Rocinante vereint ist.
Hauptcharakter James Holden (Steven Strait) zeigt sich in Staffel 4 deutlich mürrischer als zuvor, was ihm das Saubermann-Image der letzten Staffeln endgültig wegnimmt. Holdens Halluzinationen in Form von Detective Miller (Thomas Jane) bleiben weiterhin ein unterhaltsames Gimmick der Serie.
Herausragend ist vor allem “Bad-Guy-Face”-Schauspieler Burn Gorman als psychopathischer Brutalo Chief Adolphus Murtry, der die anarchischen Zustände in der Siedlung mit jedem Mord genießt. Sein Charakter ist so herrlich fies, dass man ihn als Hassobjekt schnell ins Herz schließt.
Star Trek: Picard mag The Expanse im Moment die Show stehlen, doch die nun vier Staffeln starke Weltraumserie ist vermutlich das stärkste Science-Fiction-Material, das du im aktuellen Streaming-Angebot finden wirst. Amazon pumpt Staffel 4 auf Blockbuster-Format auf und überzeugt mit atmosphärischen Szenerien, intelligenten Dialogen und beißender Spannung. The Expanse erfüllt alle Kriterien für das neue Star Trek. Staffel 5 kann nicht schnell genug kommen!
Artikel vom 20. Februar 2020
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