8.2/10

Kritik: Marseille – Staffel 1

DIE FRANZÖSISCHE ANTWORT AUF ‘HOUSE OF CARDS’

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Genres: Drama, Krimi, Thriller, Startdatum: 05.05.2016

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In der ersten Staffel der neuen Serie Marseille beschreitet der Streaming-Gigant Netflix neue Wege und präsentiert seine erste rein-europäische Produktion. Glaubt man französischen Kritikern, ist die Serie ein Flop. Glaubt man Netflix, ist das Polit-Drama mit Gérard Depardieu ein französisches House of Cards. Tatsächlich ist Marseille jedoch mehr als nur ein Abklatsch der US-Serie.

#storysüchtig #strangerthings #schwarztee

Darum geht’s

Ein breiter Rücken. Über ein Tisch beugt sich eine massige Gestalt. Die Kamera fährt zu. Plötzlich reißt der Anzugträger seinen Kopf in die Höhe. Die Nase wird hochgezogen. Der große Körper setzt sich in Fahrt, steht auf. Robert Taro, Bürgermeister von Marseille, prüft den Sitz seiner Krawatte, wischt die verdächtigen Reste des weißen Pulvers aus seinen Nasenlöchern. Er ist bereit. Die Serie beginnt.

Schon die erste Szene der neuen Netflix-Serie schlägt in ihren Bann und macht klar, um was es in der Polit-Serie gehen wird: um die Schattenseiten der Macht.

In der Hauptrolle: Gérard Depardieu. Das französische Schauspiel-Urgestein spielt Robert Taro, den koksenden Bürgermeister von Marseille. In der zweitgrößten Stadt Frankreichs stehen Kommunalwahlen vor der Tür. Lucas Barrès, der Schützling Taros, soll seinen politischen Ziehvater ablösen. Soweit der Plan. Doch Barres (Benoît Magimel) will keine Kopie seines väterlichen Mentors sein. Er sagt sich los und hintergeht Taro. Später gibt Lucas zu, dass er „Vatermord“ begehe. In der Politik sei das jedoch normal, meint er.

„Das ist Vatermord. Ganz normal.“

Lucas Barrès über seinen politischen Verrat

Um Marseille zu retten, bleibt Bürgermeister Robert Taro, der „seine“ Stadt über alles liebt, nichts anderes übrig, als erneut zu kandidieren. Gegen seinen Schützling. Doch Taros Chancen stehen schlecht. Noch dazu ist seine Frau Rachel Taro (Géraldine Pailhas) keine Unterstützung. Dem Einzelkämpfer Lucas Barrès sind jedoch alle Mittel recht. Mögen die Spiele beginnen.

Mann gegen Mann: Lucas Barrès und Robert Taro.

Lucas Barrès streitet mit Robert Taro in der Serie Marseille

Auch Marseille – Staffel 1 selbst steht für Veränderung. Für Veränderung des europäischen Fernsehmarktes. Die Serie ist die erste Netflix-Produktion, die in Europa für Europa produziert wurde. Reed Hastings, der Boss des Streaming-Dienstes, kündigte diesen Schritt bereits vor rund zwei Jahren an. Nun ist es soweit. Wir können uns also auf spannende Zeiten in der Filmbranche freuen. Netflix hat das Geld, den Willen und gute Autoren. Etwas, das vor allem im deutschen Filmmarkt schmerzlich fehlt. Auch für Deutschland hat Netflix bereits eine eigene Serie angekündigt, viele Infos gibt es jedoch noch nicht. Auch der Streaming-Dienst Amazon Video springt auf den selben Zug: Die Serie Wanted, mit Matthias Schweighöfer in der Hauptrolle, soll Anfang 2017 auf Amazon.de abrufbar sein.

Depardieu und die Sache mit den Drogen

Zurück zum Thema: Was an Marseille – Staffel 1 logisch erscheint, ist gleichzeitig überraschend: die Wahl des Hauptdarstellers. In den letzten Jahren war Gérard Depardieu vom Bildschirm französischer und internationaler Produktionen weitestgehend verschwunden. Seine Sympathiewerte im Keller. Im Weinkeller könnte man sagen. Denn der französische Aushängeschauspieler fiel vor allem durch Völlerei und Alkohol-Exzesse auf. Schaut man in der Serie in Depardieus Gesicht, sieht man die Spuren so einiger Trinkgelagen.

Und dann war da noch diese Sache mit Putin: den sonst so sympathischen Gérard Depardieu verband eine Männerfreundschaft mit dem russischen Präsidenten. Das mag sein Bier sein, doch als Depardieu zu Propaganda-Zwecken die russische Staatsbürgerschaft annahm und sich als dubioses Maskottchen präsentieren lies, verprellte er weltweit seine Anhängerschaft. Seine Schauspielkarriere hatte ich für tot erklärt. Und jetzt das. So kann man sich täuschen.

Robert Taro (Gérard Depardieu) kämpft gegen seinen politischen Ziehsohn.

Gérard Depardieu als Robert Taro in Marseille

Der Bürgermeister, der zu nett ist

Tatsächlich erinnert Robert Taro an Gérard Depardieu, das Wrack, das seinen Zenit überschritten hat. Ob Depardieu Drogen nimmt oder nicht, kann nur gemutmaßt werden, doch sein zerstörtes aufgedunsenes Gesicht und sein immenser Leibesumfang könnte nicht besser zur Rolle des koksenden Bürgermeisters passen: Taro hat gut gelebt, sich die ein oder andere Bouillabaisse – eine lokale Spezialität – zu viel gegönnt und jahrelang die Geschicke der Stadt Marseille lenken können.

Depardieu spielt Bürgermeister Robert hinreichend gut. Taro kann man nicht nicht lieb haben. Ein bisschen ist er wie ein Großvater, den man knuddeln will. Ein wenig naiv, ein wenig altmodisch aber grundsätzlich lieb. Leider geht dabei die Tiefe der Figur verloren. Um sich im Wahlkampf behaupten zu können, versteht es zwar auch Taro, fiese politische Schachzüge zu vollführen, wirkt dabei leider stets nett und grundsympathisch. Ganz anders als bspw. Kevin Spacey als Frank Underwood in House of Cards, bei dem man nie weiß, ob man ihn mögen oder verachten soll.

Barrès, die Schlange

Lucas Barrès ist das genaue Gegenteil von Bürgermeister Robert. Seine gegeelten und mit blonden Strähnen versetzten Haare, seine engen Designer-Hemden und die obligatorische Protz-Sonnenbrille verleihen ihm, dem Verräter, einen schleimigen Ausdruck. Für Barrès gibt es nur Barrès.

Benoît Magimel füllt die Garderobe seiner Rolle hervorragend. Auch die moderne und kalte Einrichtung seiner Wohnung spiegeln seine Seele, denn anders als der liebevolle Taro ist Lucas voll Hass. Schaut man Benoît Magimel in die Augen, so sieht man nur Kälte. Es fröstelt einen. Überhaupt sind seine Augen – einer Schlange gleich – meist zu Schlitzen verengt. Er wirkt kalt. Leblos. Wie ein Roboter vielleicht. Für die Rolle des „Vatermörders“ ist er die perfekte Besetzung. Aussetzen könnte man jedoch, dass sein Schauspiel wenig Variation kennt und mehr plakativ als subtil ist. Man kommt der Figur Barrès nicht nahe. Aber mal ehrlich, wer will diesem Ekel schon nahe kommen?

Eiskalt und cool: Benoît Magimel als Lucas Barrès.

Benoît Magimel als Lucas Barrès in Marseille

Bürgermeistertochter auf “Ghetto-Safari”

Am besten gefällt mir jedoch Guillaume Arnault. In der Nebenrolle des Eric, einem perspektivlosen Jungen aus einem Marseiller Armutsviertel kondensiert die Problematik, mit der Frankreich zu kämpfen hat. Ohne echte Ausbildung, ohne Chancen, fühlt er sich dumm und von der Gesellschaft verraten. Julia Taro (Stéphane Caillard), das Mädchen der Oberschicht, gibt ihm Nähe und stärkt sein Selbstbewusstsein. Doch auch das sind nur leere Versprechungen. Sie, die Tochter des Bürgermeisters lässt ihn fallen. Aus seiner Liebe wird Hass. Wieder einmal hat das Establishment Eric versetzt. Missbraucht. Er wird kriminell; sie geht in die Politik. Der Unterscheid zwischen Ghetto und Bürgermeistertochter könnte kaum größer sein.

Auf “Ghetto-Safari”: Stéphane Caillard als Julia Taro.

Stéphane Caillard als Julia Taro in Marseille

Vorort vs. Villenviertel

Netflix, der Konzern aus den USA, legt mit der Serie den Finger in eine klaffende Wunde Frankreichs: die Kluft zwischen arm und reich; zwischen Vorort und Villenviertel.

Tatsächlich ist Marseille – Staffel 1 eine Schwarz-Weiß-Zeichnung. Ausnahmsweise meine ich das nicht negativ. Denn die Gesellschaft in französischen Großstädten ist nun mal schwarz-weiß. Showrunner Dan Franck überspitzt diese Beobachtung und zeichnet das Bild einer tief gespaltenen Großstadt. Auf der einen Seite schillernde Barock-Bauten mit marmornen Büsten und Ölgemälden auf der anderen Seite stinkende Problembezirke mit maroden Plattenbauten und Graffiti.

Anders, als es manche Kritiker behaupten, ist die gesellschaftskritische Serie jedoch gerade deshalb kein französisches House of Cards. Ja es geht um Politik, doch der Fokus ist ein anderer. Während Frank Underwood in House of Cards der normalen Bevölkerung nie näher kommt als bei seinem Lieblings-Hühnerbein-Imbiss, zeigt Marseille – Staffel 1 beide Seiten und thematisiert weniger das Streben nach Macht, als die Auswirkungen, die Macht auf Ausübende und auf Empfangende hat.

Außerdem ist die erste Staffel des Polit-Dramas verständlicher als es die ersten Staffeln von House of Cards sind. Statt komplexe politische Schachzüge nachzuzeichnen geht es um den Kampf Mann gegen Mann. Robert Taro gegen Lucas Barrès.

Lucas und Vanessa: Wenn Sex gleich Macht ist.

Macht korrumpiert, wieder einmal

Dennoch: unterm Strich geht es auch hier um Macht. Robert Taro will zwar das Beste für seine Stadt, doch kann er nicht glauben, dass es, wenn andere an der Macht wären, der Mittelmeer-Metropole genauso gut gehen würde, wie unter seiner Regentschaft. Von der Macht lassen, kann er nicht.

Der Emporkömmling Barrès will um jeden Preis an die Macht. Auch Sex ist für ihn Macht. Und den nimmt er sich nur allzu oft. Oder gibt ihn; als Bezahlung für Gefälligkeiten. Ein Gewissen scheint der Getriebene nicht zu haben.

Besonders tragisch ist jedoch die Figur Julia Taro. Die sympathische und liebenswürdige Tochter des Bürgermeisters ist an Macht gewohnt. Für sie ist Macht selbstverständlich. Ohne böse Absicht, setzt sie ihren Charme bei Männern ein. Das sie diese damit in ihre Macht bringt, und letzen Endes ausnützt, ist ihr nicht bewusst. Auf gewisse Weise benutzt sie die Jungs der Vorstadt genauso wie auch Barrès.

Mittelmeer-Atmosphäre zum Frösteln

Was bei einer Serie über die malerische Hafenstadt nicht fehlen darf, ist der Fußballclub Olympic Marseille. Tatsächlich beginnt und endet die Serie sogar im Stadion, das mit seinen leidenschaftlichen Sprechchören der Fans ein grandiosen Rahmen für das Polit-Drama gibt. Hier lässt sich am besten greifen, warum sich die Serie manchmal wie ein antikes, leicht pathetisches Drama anfühlt: Wenn die lokal-politische Führungsriege, also Taro und Barrès, dem Fußballspiel beiwohnen, wirkt das so, als ob Julius Caesar und der Vatermörder Brutus einem Kampf in einem Amphitheater einen Besuch abstatten.

In der Tat ist die Serie voller Pathos. Jedoch in genau dem richtigen Maß. Das dickste Plus der ersten Staffel ist die Atmosphäre. Sie ist schwerfällig und nachdenklich. Es fühlt sich an, als ob die Serie an einem heißen Sommertag im Schatten einer Palme läge und die Ereignisse der Vergangenheit Revue passieren lasse. Das passt nicht nur zur Mittelmeer-Ambiente, sondern auch zum Genre. Faszinierend ist, dass trotz einer Vielzahl bedächtiger Kameraflüge, stummer Zeitlupen, innerer Monologe und einem langsamen Erzähltempo die erste Staffel nicht langweilt. Stattdessen ermöglicht uns die Serie – wie es nur wenige Filme und Serien schaffen – genau zu verfolgen, was die Figuren denken und fühlen.

Unterstützt wird dieses einzigartige Art zu Erzählen durch einen wundervoll-bedachten Schnitt und einen großartigen Score, der schwer und träge durch die Serie wabert und an heiße Sommerluft erinnert, die sich zwischen den Gassen einer Mittelmeer-Stadt verfangen hat.

Schöner Schein – hinter der Fassade warten Drama und Pathos.

Marseille in der Netflix-Serie Marseille

Fazit

8.2/10
Stark
Community-Rating: (1 Votes)
Handlung 8/10
Schauspieler 8/10
Tiefgang 8.5/10
Spannung 7.5/10
Atmosphäre 9/10

‘Marseille – Staffel 1’ ist ein Hingucker

Marseille – Staffel 1 hat eine überdurchschnittlich gute Handlung, die dem Anspruch an ein politisches Drama gerecht wird. Trotz guter Plot Twists ist die Serie jedoch nicht durchgehend spannend, auch wenn es dramatische Höhepunkte gibt. Das filmische Portrait der gespaltenen französischen Gesellschaft die Showrunner Dan Franck mit der Polit-Serie präsentiert ist aktuell und brisant. Dass die Serie dabei in Schwarz und Weiß verfällt, schadet nicht. Viel mehr verleiht der aktuelle sozio-politische Bezug der Erzählung Tiefgang und regt zum Nachdenken an. Am überzeugendsten ist jedoch die düstere und schwere Atmosphäre, die das Drama versprüht, und der ersten Staffel einen ganz eigenen Charakter verleiht. Entgehen lassen sollte man sich die französische Antwort auf House of Cards auf jeden Fall nicht. Ein packend inszenierter Cliffhanger am Ende der Staffel lässt einen der zweiten Staffel entgegenfiebern.

Artikel vom 22. Mai 2016

2 Kommentare
    • Nono Weinzierl
      Nono Weinzierl sagte:

      Hi, vielen Dank für den Hinweis. Wir haben nochmal recherchiert und du hast Recht: Bei dem besagten Viertel handelt es sich um “Felix Pyat”, das nur unweit vom Hafen und vom Zentrum entfernt ist. Also keine “Banlieue” am Stadtrand. Ich ändere es im Text. Vielen Dank und Grüße von Nono

      Antworten

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