Kommentar & Podcast: Wie viel Potential steckt in @ichbinsophiescholl?

REVOLUTION ODER GIMMICK?

Was wäre, wenn eine historische Figur plötzlich Influencerin auf Instagram wird? Doch es geht nicht um Schminke oder Pillen, sondern um Rebellion. Anlässlich des 100. Geburtstages von Sophie Scholl haben der SWR und BR mit @ichbinsophiescholl die berühmte Aktivistin zum Leben erweckt. Wir diskutieren, warum dieses Format so packend ist und wie es die Zukunft des Storytellings beeinflussen könnte.

Dieser Artikel wurde in Ko-Produktion durch folgende Autoren erstellt:

“Stell dir vor, es ist 1942 auf Instagram”

Mit diesem Satz lädt uns die Instagram-Seite @ichbinsophiescholl auf eine einzigartige Zeitreise ein. Eine Reise in eine düstere deutsche Vergangenheit, die wir uns meist nur in Schwarz-Weiß vorstellen, und die plötzlich so real und farbig erscheint wie das Selfie, das man mit der Frontkamera seines Handys schießt. Instagram wird plötzlich zur Zeitkapsel zwischen den Zeiten. Durch die Mittel der Instagram-Welt, wie Storys, Feed-Posts und Interaktivität in der Kommentarspalte, kreiert @ichbinsophiescholl die Illusion, dass Sophies Geschichte aus dem Jahr 1942 in Echtzeit passiert.

So beobachten wir Sophie und Nazi-Deutschland Tag für Tag; wie sie ihren Geburtstag feiert, ausgedehnte Spaziergänge durch das historisch in Szene gesetzte München unternimmt oder ihren ersten Tag an der Uni erlebt. Ganze zehn Monate soll dieser Ausflug in die Vergangenheit andauern und dadurch sowohl von den jugendlichen und aufregenden Erfahrungen einer jungen Studienanfängerin in einer neuen Stadt, als auch vom finsteren Ende einer der mutigsten NS-Widerstandskämpferinnen erzählen.

Nationalsozialismus durch die Frontkamera eines Smartphones. Selten fühlt sich “Zeitreisen” so real an.

Woher kommt das Format?

Obwohl das Format noch in den Kinderschuhen steckt, ist die Verfilmung von Sophie Scholls letztem Lebensabschnitt nicht das erste Projekt, das einen Schritt aus den klassischen Erzählformen raus, und rein in die Welt von Instagram wagt. Seit zwei bis drei Jahren, und besonders als Ergebnis der Suche nach neuen Spielräumen und Vermittlungsformaten während der Corona-Pandemie, fanden die verschiedensten Geschichten ihren Weg auf Social Media.

Im Gegensatz zu normalen Filmen und Serien, gibt es hier keine vorgewiesene Richtung. Wir entdecken die Serie selbst, indem wir durch die Storys, Highlights und Posts scrollen.[/caption]

Ein eindrucksvolles Beispiel, das internationalen Erfolg feierte und in gewisser Weise als geistiger Pate von @ichbinsophiescholl gesehen werden kann, ist das israelische Projekt Eva Stories aus dem Jahr 2019. Basierend auf den Tagebüchern der dreizehnjährigen Eva Heyman erzählt der Instagram-Account von der Deportation der Jüdin nach Auschwitz und den damit zusammenhängenden Schrecken des Holocausts. Das Ergebnis war eine erschütternde Geschichte, die von verschiedenen Schauspieler*innen in ca. 70 Beiträgen auf den eigenen Handybildschirmen erschreckend nah erfahrbar gemacht wurde.

Ein Beispiel für eine komplett andere Herangehensweise an die Vermischung von Instagram und Storytelling ist das interaktive Insta-Game Der Kult der toten Kuh (2021), das uns selbst zum zentralen Dreh- und Angelpunkt einer packenden Mystery-Hacker-Handlung macht, und innerhalb eines inszenierten Rahmens zu der Jagd nach einem rätselhaften Algorithmus auffordert. Die Suche führt uns über mehrere Accounts, Storys und sogar Spiele mit Instagram-Filtern hinweg, und lässt uns selber in die Schuhe eines gerissenen Ermittlers schlüpfen.

Sicherlich werden sich immer mehr Projekte mit den neuen Spielzeugen auf der Instagram-Spielwiese auseinandersetzen. Doch was macht den Reiz dieses Formats aus und können sie wirklich eine ernsthafte Alternative zu den etablierten Formaten wie Kino oder Streaming werden?

Interaktivität auf ganz neuem Level

Interaktivität in Filmen ist keinesfalls neu oder “Avantgarde”. Dennoch ist es ein Gebiet, auf dem der Film vielen anderen Medien wie Videospielen oder Theater weit hinterher ist. Zu den populärsten Experimenten gehören der deutsche Fernsehfilm Terror, der das Publikum live über dessen Ende entscheiden ließ, oder das „choose your own adventure“ Black Mirror-Spinoff Bandersnatch auf Netflix. Die tatsächliche Entscheidungsfreiheit gleicht jedoch der eines interaktiven Gänsehaut-Buches, frei nach dem Motto: „Wenn du dich unter dem Bett verstecken willst, dann ließ auf Seite 56 weiter“. Von tatsächlicher Entscheidungsfreiheit kann man hier nicht sprechen.

Bei @ichbinsophiescholl sieht das Ganze deutlich anders aus. Durch die Kommentarspalten unter jedem Post werden die Gedanken und Gefühle des Publikums direkt und für alle sichtbar, was eine unmittelbare Austauschplattform zwischen den Zuschauer*innen bietet.

Doch damit nicht genug. Das Team hinter @ichbinsophiescholl tritt in der Rolle der Sophie Scholl aktiv mit verschiedenen Kommentarschreiber*innen in Kontakt. So ist es möglich, direkte Fragen an Sophie zu stellen und auf eine Antwort zu warten, von einer Person, die seit fast 80 Jahren tot ist.

Nicht selten hatte ich beim Scrollen durch die Instagram-Page das Gefühl, essenzielle Teile der Geschichte zu verpassen, wenn ich nicht unter jedem Beitrag tief in die Kommentare abtauche, um jeden einzelnen von Sophies Gedanken und ihrer Weltanschauung aufnehmen zu können. Die unzähligen kleinen Erzählungen, die aus diesen Begegnungen in den Kommentaren wachsen, verleihen @ichbinsophiescholl eine einzigartige Nahbarkeit.

Sophie Scholl redet direkt in ihr fiktives Handy.

Zwischen Katzen und Stränden

Instagram ist ein Medium, das bereits tief im Alltag der meisten Menschen unter 30 verwurzelt ist. Wir benutzen die Plattform zum sozialen Austausch zwischen Freunden, als Informationsquelle über aktuelles Weltgeschehen oder für kleine glamouröse Einblicke in die Leben unserer Hollywood-Idole / Freunde.

Sophie Scholls Content erzeugt eine verblüffende Täuschung, denn er befällt unseren persönlichen Instagram-Feed; der eine Spiegelung unserer Interessen ist, eine private “Bubble” mit bekannten Gesichtern und tagesaktuellen Einblicken in deren Leben. Wenn das düstere Schicksal von Sophie im Gewand einer herkömmlichen Story inmitten der Frühstücksfotos und gefilterten Selfies der Freundesgruppe auftaucht, fühlt sich das befremdlich und wahrhaftig an.

Das Format ist biegbar. User*innen können direkten Einfluss nehmen.

Zwischen Selbstreflexion und Selbstdarstellung

Von einigen Menschen wird die Serie scharf kritisiert: Sophie Scholl werde unrechtmäßig heroisiert. Auch sie war lange Zeit im Bund junger Mädel aktiv und fand Gefallen an den euphorischen Zukunftsvisionen für das Deutsche Volk, die Hitler und seine Anhänger propagiert hatten.

Es durchbricht also schon fast die vierte Wand, als die fiktive Sophie Scholl plötzlich #Selbstreflektion auf Instagram postete und die Frontkamera als Beichtstuhl benutzte. Sie schämt sich öffentlich für ihr altes Ich. Doch wie viele Menschen kennen wir, die so entwaffnend-ehrlichen Content öffentlich posten? In den meisten fällen geht es nämlich um die bestmögliche Selbstdarstellung, das Finden der eigenen Schokoladenseite, das Posten der schönsten Momente durch den schönsten Filter.

Sophie Scholl reflektiert ihr früheres Nazi-Selbst. Entwaffnend ehrlich.

Social Media hat wenig mit Selbstreflexion zu tun. Es geht mehr um das Gegenteil: Sein eigenes Wunsch-Abbild darzustellen. Dementsprechend können Protagonist*innen aus Instagram-Serien niemals so ambivalent dargestellt werden, wie es gottgleiche Regisseur*innen oder Autor*innen vermögen, die ihre Charaktere in den sensibelsten Momenten einfangen.

Social Media ist weniger Tagebuch als Selbstinszenierung.

Man muss eben die Regeln kennen

In der Kommentarspalte fragt eine Userin, ob es denn eine Möglichkeit für ihre Mutter gäbe, Sophies Geschichte auch außerhalb von Instagram mitzuerleben. Sophie antwortet; und schlägt vor, die wöchentlichen Zusammenfassungen auf IGTV doch zusammen mit ihrer Mutter anzuschauen.

Das ist natürlich nur eine halbgare Alternative und macht weitaus weniger her, als Sophies Instagram-Account auf eigene Faust zu erforschen. @ichbinsophiescholl ist ein bisschen wie ein “Insider”: man versteht ihn erst, wenn man das nötige Hintergrundwissen hat. Wenn eine Mutter, die Instagram noch nie benutzt hat, nicht weiß, dass Storys im 09:16 Format gedreht werden und nach 24 Stunden wieder verschwinden, dann bleibt vom Konzept nicht viel mehr übrig als eine Historienserie mit einem klaustrophobischen Seitenverhältnis.

Natürlich ist die Hauptzielgruppe das junge Publikum. Millenials, die den Nationalsozialismus nur aus Geschichtsstunden oder aus ntv-Dokus kennen, oftmals keine Zeitzeug*innen mehr in ihren Familien haben, die aus persönlicher Erfahrung sprechen können. Für eben jene Zielgruppe ist es ein regelrechter “Mindfuck”, die in Schwarz-Weiß vorgestellte Welt des Dritten Reichs in Farbe und Filter zu sehen.

Eine Sache spielt den Millennials besonders zu: Man muss während des Konsums nicht das Handy aus der Hand legen. In leicht verdaulichen, superschnellen Päckchen von 15 Sekunden lässt sich die Serie schauen, die Fotos vom Schwarm oder die Nachricht des besten Kumpels nur zwei Daumenwischs entfernt. Man sagt, die digitale Flut hemme unsere Konzentrationsstärke und Geduld. Eine Serie auf Instagram erscheint ein bisschen wie das Schachmatt gegen alle Cineast*innen, die sich einen abendfüllenden Kinofilm ohne Ablenkungen im Kino um die Ecke anschauen möchten.

Das Format wird konservativen Cineasten nicht schmecken.

Wir wollen aber nicht zu dramatisch werden: So schnell wird der klassische Film nicht ausrangiert werden, auch nicht durch zwanzig weitere Instagram-Serien.

Storys zwischen Realität und Fiktion

@ichbinsophiescholl ist eine historische Serie, und dennoch ist alles inszeniert. Gehört so etwas auf Instagram? Natürlich kann man nun die Diskussion führen, ob nicht jede Instagram-Story bis zu einem gewissen Grad inszeniert sei, und dennoch ist eine gecastete und abgedrehte Serie eine völlig neue Dimension der Inszenierung.

Hier vermischen sich Realität und Fiktion. Würden sich die großen Filmstudios nun alle dazu entscheiden, weitere Instagram-Serien zu produzieren, wären unsere Timelines bald gefüllt mit fiktivem Content. Es wäre eine ähnlich große Veränderung wie die Einführung der Instagram-Story-Werbeanzeigen, vermutlich sogar noch größer.

Formate wie @ichbinsophiescholl müssen die Ausnahme bleiben. Ansonsten implodiert Instagram auf die selbe Weise wie Facebook, welches sich vom sozialen Netzwerk weg entwickelt hat, hin zum kommerziellen Absatzkanal für Produkte und Informationen.

Auch ohne Hype ein faszinierendes Experiment

Mit Sicherheit kann der Hype nicht den zehn Monaten Laufzeit standhalten. Die Euphorie wird abflachen; und dennoch wird @ichbinsophiescholl filmisches Potential aus einem neuen Medium ausgraben und viele junge Kreative inspirieren, ähnliche Projekte ins Leben zu rufen. Schließlich sind die Gateway-Kosten für eine Instagram-Serie recht gering, wie schon damals, in Zeiten des Found-Footage-Horrorfilms. Vielleicht wäre ein bisschen mehr Kultur in den Storys ganz erfrischend. Vielleicht wird aber auch das passieren, was vor Jahren auf Facebook passiert ist: Das Medium wird zu voll und willkürlich, und man emigriert auf andere, unbelastete Netzwerke. Eine Entwicklung, die wir ohnehin schon beobachten.

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Viel Spaß, wünschen euch eure Hosts
Daniel & Keyvan

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