Genau dieser Aspekt blitzt immer wieder mit aller Gewalt auf: Joe ist eine zerbrochene Figur mit posttraumatischer Belastungsstörung, die ihren Erlebnissen nicht entkommen kann. Immer wieder fällt Joe förmlich in die Rolle des kleinen Jungen zurück, der sich zitternd im Wandschrank vor seinem wütenden Vater versteckt. Gleichzeitig ist er ein mordender Berserker, der Menschen ohne zu Zögern mit dem Hammer den Schädel einschlägt. Dann wiederum kümmert er sich rührend um seine Mutter und erschafft dadurch einen Kontrast, der einem den Magen umdreht. “Dieser Charakter ist ein Labyrinth”, erzählte Lynne Ramsay in einem Interview. Es ist eine Meisterleistung, dieses Labyrinth in so kurzer Zeit mit so wenig Stilmitteln so umfassend zu durchschreiten.
Die Kunst des Weglassens
Für viele Zuschauer könnte A Beautiful Day zur klassischen “love it or hate it”-Nummer werden. Ähnlich wie bei Drive lebt der Film von einer ungemein dichten Atmosphäre, von experimentellen Sichtweisen und Kameraeinstellungen, von Soundtrack-getriebenen Szenen und einem mystischen Protagonisten. Das Action-Brett, das sich manch einer erhoffen könnte, wird hier aber nicht geliefert – auch, wenn hier trotzdem die Köpfe rollen.
Lynn Ramsay schert sich nicht darum, den Voyeurismus des Publikums zu befriedigen. Die erste gewaltvolle Szene, in denen Joe mit einem Hammer ein Bordell aufräumt, wird beispielsweise nur aus Sicht der Überwachungskameras gezeigt und lässt die Brutalität im Kopf des Zuschauers geschehen. In vielen weiteren Szenen bekommen wir nur das Ausmaß der Gewalt in Form von Leichen serviert – der Akt des Tötens wird aber immer wieder übersprungen. Gerade im Finale gibt es wunderbar-intensive Schnittfolgen, die genau mit diesem Stilmittel spielen und den Protagonisten fast wie einen mordenden Geist erscheinen lassen. Natürlich lässt es sich Ramsay nicht nehmen, hin und wieder mit genau dieser Machart zu brechen. Diese Momente sind dafür umso heftiger.
Betörende Soundkulisse
Während die Kamera teils seelenruhig, teils im “shaky”-Modus die Momente gekonnt einfängt, ist A Beautiful Day vor allem auch ein Fest für die Ohren. Die Soundkulisse ist fast schon omnipräsent, Hintergrundgeräusche verschmelzen nahezu mit dem Soundtrack und ziehen den Zuschauer in die Atmosphäre jedes neuen Schauplatzes. Ob Joe durch stürmischen Regen läuft oder durch den idyllischen Garten einer Ferienresidenz schleicht – das Sounddesign hat bereits innerhalb von Sekunden die Umgebung glaubhaft etabliert.
Dazu kommt ein herausragender Score von Jonny Greenwood, dem Gitarristen der Band Radiohead. Die Musik wechselt fast mühelos zwischen melancholisch-verträumt, 80er-Synthies und treibender Perkussion. In manchen Tracks (“Sandy’s Necklace”) spiegelt Greenwood mit schrillen Disharmonien auch die innere Zerrissenheit des Protagonisten wieder. Diese metamusikalische Herangehensweise hat ihm für Der seidene Faden jüngst eine Golden Globe- und Oscarnominierung beschert.
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