Kritik: Aftersun
BILDER, DIE BLEIBEN
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Calum (Paul Mescal) fliegt mit seiner Tochter (Frankie Corio) in den Urlaub. Ein Ressort in der Türkei mit Pool, Zugang zum Meer und Animateuren. Etwa zwei Wochen verbringen sie dort zwischen langweiligen Busfahrten, spannenden Tauchgängen und faulen Tagen am Pool. Regisseurin Charlotte Wells erzählt in Aftersun keine Geschichte in drei Akten, sie zeigt die Figuren einfach, wie sie einen Urlaub verbringen.
Doch immer wieder durchbrechen Bilder die Urlaubsidylle. Videokamera-Aufnahmen aus dem Urlaub, eine junge Frau im Strobo-Licht, es wird klar: Aftersun ist eine Erinnerung. Wells öffnet so einer unterschwelligen Traurigkeit die Tür, die lange nachwirkt.
Es könnte so idyllisch sein. Ein Vater, im Urlaub mit seiner Tochter. Er so jung, sie könnten Geschwister sein. Sie in dem Alter, der Urlaub – könnte auch eine Coming-of-Age-Geschichte sein. Doch plötzlich unterbricht ein Strobolichtgewitter die warmen Sonnenstrahlen der türkischen Sonne. Die schönen Bilder verschwinden, eine junge Frau steht inmitten der einer Tanzfläche und bewegt sich kaum. Ihr Blick gesenkt, während sich die Leute um sie herum in Ekstase tanzen. Ihre Augen sind geschlossen.
Wir befinden uns in Aftersun in ihrer Erinnerung. Einer so schönen, so schmerzhaften Erinnerung; als hätte man sie selbst erlebt. Immer wieder unterbricht das Bild der jungen Frau im Club den Film. Auch Aufnahmen eines Camcorders, den die junge Tochter Sophie im Film geschenkt bekommt, fließen immer wieder in den langsam plätschernden Strom der Urlaubsbilder ein.
Paul Mescal und Frankie Corio sind dafür das perfekte Duo. Oft gespiegelt und gebrochen, transportieren ihren Blicke alles, was in einer Beziehung einer Tochter zu ihrem Vater nicht gesagt werden kann. Ihre Chemie lässt eine Nähe entstehen, die selbst ohne die todtraurige zweite Ebene des Films das Herz brechen würden.
Es gibt eine Szene in Aftersun, die den Film perfekt beschreibt. Regisseurin Wells hält die Kamera lange auf einem frisch geschossenen Polaroid-Bild, dass sich langsam entwickelt. Calum und Sophie reden währenddessen, doch das ist nicht wichtig. Es zählt nur das Bild, das sich langsam zur Erinnerung wandelt.
Wells zeigt den Schmerz unter der Oberfläche selten explizit, sondern immer wieder durch Farben und Bildkompositionen, dass es etwas unter der Oberfläche brodelt. In einer Szene sitzt Sophie im warm beleuchteten Hotelzimmer und liest in einem Buch, die Unschuld in Person, und fragt ihren Vater was dieser und jener Begriff bedeutet.
Er sitzt währenddessen nebenan im dunklen, kalten Badezimmer. In seiner linken Hand eine Nagelschere, mit der er den Gips an seinem rechten Arm abschneiden will. Unter ihm ein Eimer, in den Blut tropft. Die Schere ist abgerutscht, im Arm ein tiefer Schnitt. Er behandelt ihn nicht, hält den Blick gesenkt, kämpft gegen seine Tränen an. Dennoch antwortet er seiner Tochter liebevoll und beantwortet all ihre Fragen.
Seinen Schmerz versteckt er vor ihr. Aber er ist da, das zeigt sich immer wieder in Nuancen von Paul Mescals Spiel. Seine Figur leidet. Nur wenn er Zeit mit seiner Tochter verbringt, oder wenn er Tai Chi macht, ist es für einen kurzen Moment erträglich. Regisseurin Wells zeigt immer wieder, wie zerstörerisch dieses stille Leiden noch eine Generation weiter sein kann. Die erwachsene Tochter steht immer wieder im Strobolicht, die Augen geschlossen, den Kopf gesenkt.
Durch diese Gleichzeitigkeit von Gegenwart und Vergangenheit transportiert Wells in Aftersun einen Schmerz, der in der Erinnerung nur noch stärker wird. Was, wenn alles anders gelaufen wäre? War es mein Fehler? Warum? So viele Fragen, die man der Person nicht mehr stellen kann. Man kann nichts verändern. Das tut weh. Debütantin Charlotte Wells platziert diesen Schmerz leise und subtil in den Herzen ihrer Zuschauerinnen und Zuschauer. Dort bleibt er.
Regisseurin Charlotte Wells hat einen Debütfilm geschaffen, der lange nachwirkt. Nie war der Einsatz von Heimvideo-Material emotionaler. Aftersun plätschert langsam vor sich hin, eigentlich passiert nichts. Dennoch ist die Spannung unerträglich. Die schreckliche Gleichzeitigkeit von Gegenwart und Vergangenheit gießt sie in Farben, Blicke und Bilder, die gemeinsam ein leises und zerstörerisches Meisterwerk ergeben.
Artikel vom 30. Dezember 2022
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