9.2/10

Kritik: Bo Burnham: Inside

PUNCHLINES OHNE PUBLIKUM

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Genres: Drama, Komödie, Startdatum: 30.05.2021

Interessante Fakten für…

  • Bo Burnham: Inside wurde mit etliche Preisen ausgezeichnet. Darunter auch 3 Primetime Emmys.
  • Burnham filmt in derselben Location, in der sein Netflix Special Make Happy endet.

Fünf Jahre lang ließ der gefeierte Comedian Bo Burnham auf ein neues Comedy-Special warten. Ausgerechnet während der Pandemie sollte er sich wieder an neues Material wagen. Herausgekommen ist ein Gesamtwerk, in dem Burnham nicht nur als Writer, Performer und Komponist, sondern auch als Kameramann, Cutter, Animator und Licht-Operator in Erscheinung tritt. War das vielleicht zu viel des Guten? Erfahrt es in unserer Bewertung und Kritik.

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#NetflixAndChill #Meta #AdvocatusDiaboli

Darum geht’s

Ein großer Raum. Eine Kamera, ein paar Lampen und ein Keyboard. Dazwischen Bo Burnham. Und die große Frage: Wie funktioniert Humor in Zeiten, in denen die ganze Welt aus den Fugen geraten ist? Und wie funktioniert ein Comedian, wenn er nicht vor Publikum, sondern nur sich selbst und einer Kamera auftreten kann? In knapp eineinhalb Stunden – die im Zeitraum von über einem Jahr gefilmt wurden – nähert sich Burnham diesen Fragen. Mit Kostümen, ironisch-kritischen Liedern, augenscheinlich authentischen Momenten, Lichtspielereien und quietschbunten sowie deprimierenden Setpieces. Alles im selben Raum…

Was Burnham anfasst, wird zu Gold

Bo Burnham ist ein Multitalent. Seine YouTube-Videos wurden über 300 Millionen Mal geklickt, er kann auf unzählige Live-Shows und Gastauftritte zurückblicken. Seine drei bisherigen Specials überzeugten Fans wie Kritiker*innen gleichermaßen mit ihrer Kombination aus drastisch-anarchischem und durchdachtem Meta-Humor. In den letzten Jahren nahm Burnham auf dem Regiestuhl des gefeierten Eighth Grade Platz, aber ließ sich auch als Darsteller im Oscar-prämierten Promising Young Woman nicht lumpen. Was Burnham anpackt, wird zu Gold. Für sein neues Special schlüpft er endlich wieder in seine Bühnenfigur. Fast ein wenig so, wie seine Karriere begann: alleine im eigenen Zimmer vor der Kamera.

Bewährt bissig und kreativ

Natürlich ist von vornherein klar, weshalb sich der Comedian eingesperrt hat, obwohl Burnham die Worte Lockdown, Corona und Pandemie nicht in den Mund nimmt. Das wird noch wichtig, denn Bo Burnham: Inside ist nicht ausschließlich eine Momentaufnahme der Gefühlswelt gebeutelter Millenials zu Zeiten von Social Distancing. Doch dazu später mehr. Auf seine ernsthafte Frage, wie er angesichts des Leids in der Welt noch Witze machen kann, folgt prompt die Antwort in einem Deus ex machina-Moment. Da befiehlt eine göttliche Stimme im gleißenden Licht ganz bescheiden, er möge die Welt doch mit seiner unglaublichen Comedy heilen. Gesagt, getan!

So fährt Bo Burnham recht schnell die Geschütze auf, für die wir ihn kennen und lieben. Etwa ein Song darüber, wie er mit seiner Mutter facetimet (und angesichts ihrer Unfähigkeit, ein Smartphone zu bedienen, schnell die Fassung verliert). Oder die liebevolle Hommage an Hans Teeuwen im Gewand einer Kindershow, in der sich Burnham von einer Handpuppen-Socke erklären lässt, wieso der Kapitalismus die Welt zerstört. Ein frühes Highlight ist definitiv „White Woman’s Instagram“, in dem Burnham nicht nur durch sein facettenreiches Spiel und unglaublich gute Sets besticht, sondern auch durch seine perfektionierte Meta-Ironie einen unerwarteten Hauch Ehrlichkeit durchschimmern lässt.

Back to the roots!

Der vielseitige Humor von Bo Burnham ist selbstreferenziell, dass es kracht. In einem Bit stellt er die YouTube-typischen Reaction-Videos nach, in dem er auf seinen eigenen Song reagiert. Allerdings bleibt er in einer Art Loop hängen, reagiert dann auf seine Reaktion und danach auf die Reaktion der Reaktion. Binnen weniger Augenblicke muss er erklären, dass vorschnelle Selbstkritik den Kritiker*innen den Wind aus den Segeln nimmt – um anschließend genau diese Aussage als bloßen Schutzmechanismus zu entlarven. Das alles ist nicht nur urkomisch, sondern auch vielschichtig ohne Ende!

„Is this heaven or just a white woman’s Instagram?“

Bo Burnham in ‘Inside’

Genau das zeichnet die Comedy von Bo Burnham aus. Ein post-ironischer, messerscharf betitelter Umgang mit der eigenen Bühnenfigur und der Wechselwirkung mit dem Publikum. Akkurat beobachtete Erkenntnisse werden in Gewänder gekleidet, die humorvoll-leicht anmuten, aber eine ganze Reihe tiefer Wahrheiten offenbaren. Man denke nur an den Kanye Rant seines Netflix-Specials Make Happy. All das ziert auch die erste Hälfte von Bo Burnham: Inside. Dann gesellt sich ein neuer Aspekt hinzu.

Intermission: Jetzt kommt die Depression

Viele haben im vergangenen Jahr den Moment erlebt, in dem die Stimmung vollends gekippt ist. Das, was zu lange Isolation eben macht. Dieses Gefühl steht im Fokus der zweiten Special-Hälfte. Die Gags werden zynischer, die Haare und der Bart werden länger, immer wieder platziert Burnham lange Szenen des Stillstands – oft kauernd auf dem Boden zwischen seinem Equipment. Doch er geht noch eine Ebene tiefer: In „All Eyes On Me“ erzählt er – unterlegt mit eingespielten Lachern – von seinem Kampf gegen Panikattacken.

„So, five years ago I quit performing live comedy, because I was beginning to have severe panic attacks while on stage, which is not a great place to have them.“

Bo Burnham in ‘Inside’

Ab hier wird es spannend! Der Rückzug aus der Welt, das bewusste Vermeiden von Interaktionen, der notdürftige Kontakt über Social Media – all das trifft auf unser Leben in der Pandemie zu. Aber eben auch auf die Erfahrungen von Burnham lange davor. Das Special wird vom Lockdown-Logbuch schlagartig zu einer Studie über Depression und Angst. Hier findet Bo Burnham seine ambivalentesten Worte über seine altbekannte und doch präsente Hassliebe zum Publikum und seinen bewussten Eskapismus in ein Projekt, das er potenziell ewig lang ziehen könnte.

Ist genau diese Art Special nicht eigentlich das perfekte Format für einen introvertierten Comedian, der in Bühnenmomenten Panikattacken bekommt? Ja und nein. Es geht nicht mit, es geht nicht ohne, sinniert Burnham, und verpackt diese eigentlich unbefriedigende Antwort sorgsam in unzählige Meta-Ebenen. Ja, über Bo Burnham: Insideließe sich eine Doktorarbeit schreiben!

DIY in Formvollendung

Schon der vielschichtige Inhalt ist ein Geniestreich. Dass Burnham das gesamte Special selbst inszeniert und produziert hat, ist jedoch die Krönung. Dank wechselnder Bühnen-Designs, eingängiger Musik und bewusstem Spiel mit Perspektiven wird einem in den 90 Minuten nicht langweilig. Wenn Bo Burnham mit einer Kopflampe auf eine Discokugel zielt und so den Raum erleuchten lässt, wenn animierte Projektionen auf ihm und der weißen Wand tanzen und er in teils absurden (oder ganz ohne) Verkleidungen performt, zeigt sich die kreative Wucht des 30-Jährigen.

Doch auch seine Kameraarbeit ist höchst spannend. Sie ist ein bewusst platziertes Element und das Portal zwischen Künstler und uns, dem Publikum. Immer wieder wählt Burnham Einstellungen, die ihn wie ein zu großes Tier im kleinen Käfig wirken lassen. Wenn der Song es fordert, wechselt das Format auch gerne mal zu 9:16 („FaceTime with my Mom (Tonight)“) oder 4:5 („White Woman’s Instagram“). Gleichzeitig zeigt sich Burnham immer wieder in seiner Produzentenrolle, in der er Abstände misst, mit dem Licht experimentiert oder frustriert hinwirft. Er inszeniert sich nicht nur: er inszeniert, wie er sich inszeniert. Das ist Meta-Burnham, wie wir ihn kennen und lieben!

Fazit

9.2/10
Meisterwerk
Community-Rating: (4 Votes)
Handlung 10/10
Schauspiel 9/10
Humor 9/10
Emotionen 9/10
Visuelle Umsetzung 9/10
Details:
Regisseur: Bo Burnham,
FSK: noch nicht bekannt Filmlänge: 87 Min.
Besetzung: Bo Burnham,

‘Bo Burnham: Inside’ ist das wuchtigste Special des Comedians

Das Netflix-Special Bo Burnham: Inside ist eines der Werke, von dem man nicht wusste, dass man es braucht – und doch zutiefst dankbar ist, dass es existiert. Mit einem unglaublichen Feingefühl, zielsicherem Meta-Humor und scheinbar niemals versiegender Kreativität zeichnet Bo Burnham den Ist-Zustand hunderttausender Millenials ab. Dabei geht es spielerisch, urkomisch und manchmal schlagartig deprimierend zu. Burnham gibt Einblick in seine Gefühlswelt, ist sich dabei aber immer bewusst, was er da gerade tut, und nicht verlegen darum, diesen Zustand direkt zu parodieren. Performance, Handwerk, Ideenreichtum und Humor sind zielsicher und kalkuliert – und gehen allesamt voll auf! Ein Special, dass man sich ohne Probleme ein paar Mal anschauen kann und immer wieder etwas Neues entdeckt.

Artikel vom 13. Juni 2021

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