Kritik: Tick, Tick … Boom!
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Bühnenautor Jonathan (Andrew Garfield) würde alles dafür geben, um die Zeit wenigstens für einige Tage anhalten zu können. Acht Jahre seines Lebens schreibt er nun schon an seiner Version eines utopischen Musicals. Eine einzigartige Show namens Superbia, die den Broadway revolutionieren und die Zuschauer:innen in eine neuartige Welt mitreißen soll. Verbissen hält das Musikgenie an seinem großen Traum fest, schuftet Geld durch einen Nebenjob als Kellner heran und schreibt, überarbeitet und komponiert nebenbei seinen großen Traum des Durchbruchs.
“Ab einem gewissen Alter verwandelt man sich von einem Komponisten, der als Servicekraft arbeitet in eine Servicekraft mit einem Hobby.”
Jonathan in Tick, Tick … Boom!
Kurz vor Jonathans 30. Geburtstag fühlen sich die verbliebenen Tage vor dem neuen Lebensjahr plötzlich wie eine tickende Zeitbombe an. Sein bester Freund Michael (Robin de Jesús) rät ihm zu einem festen Job, große Vorbilder wie Paul McCartney oder Stephen Sondheim veränderten in ihren Zwanzigern bereits die Kunstwelt und vor allem: in wenigen Tagen hat er die erste und einzige Chance, “Superbia” vor möglichen Investoren überzeugend aufzuführen. Wie besessen stürzt er sich in den letzten Feinschliff seines großen Werkes, während ihm die Zeit tickend durch die Finger rinnt.
Es braucht nur einen Schritt in die aktuelle Musical-Landschaft, um mit sicherer Wahrscheinlichkeit auf einen Namen zu stoßen: Lin-Manuel Miranda. Der brillante Kopf hinter dem weltberühmten Musical Hamilton löste mit der Aufnahme seiner Inszenierung eine lawinenartige Kettenreaktion der Begeisterung aus, die sowohl seine Stücke als auch ihn in den zeitlosen Musical-Olymp schoss. Ob die brandaktuelle Verfilmung seines Regiedebüts In the Heights oder musikalischen Beiträge zu Disney-Hits wie Vaiana oder Encato, Mirandas Name ist inzwischen unmöglich wegzudenken.
Für Tick, Tick … Boom! verlässt er die großen Musicalbühnen und nimmt das erste Mal auf dem Regiestuhl eines Films platz. Dabei bleibt er seiner großen Leidenschaft allerdings treu, denn die Geschichte rund um Jonathan Larson basiert auf einem gleichnamigen autobiografischen Bühnenstück. Larson selbst verarbeitete mit Tick, Tick … Boom! den eigenen holprigen Weg im Showbusiness, der letztendlich zum Musical-Welterfolg Rent führen sollte. Ein Ruhm, den er leider nie erleben sollte, da er am Tag der Premiere überraschend verstarb. Lin-Manuel Miranda versucht mit seiner Adaption all diese Fäden zusammenzuführen und nicht nur Larsons Leben, sondern auch eine Verneigung vor einem Künstler zu erzählen, dessen Zeit zu früh ablaufen sollte.
Die originale Bühnenversion von Tick, Tick … Boom! aus den 1990ern war eine One-Man-Show. Larson stand selbst auf der Bühne, tanzte, erzählte und sang von seinem Leben und inszenierte die Entstehungsgeschichte seines Musicals. Der Film greift diesen Aspekt auf, macht Larsons Bühnenmonolog zur Rahmenhandlung und visualisiert seine Geschichten in der Rückblenden.
Die, aus den Rückblenden bestehende, Haupthandlung erlebt das Publikum zwar immer noch chronologisch, doch der Film blendet immer wieder Momente der Rahmenhandlung dazwischen, die die Story kommentieren. So werden inmitten eines Beziehungsstreits Szenen einer komödiantischen Musical-Nummer über Paartherapie eingeblendet oder wir hören Jonathans Gedanken zu seinem Alltag als Voice Over. Diese Vermischung von oft konträren Elementen lässt tief in die Konflikte des Protagonisten blicken, der selbst zwischen dem echten Leben und der Kunst hin- und hergerissen ist.
Die dadurch entstehende Fokussierung auf Jonathans Perspektive bringt neben einem hohen Identifikationspotenzial besonders einen Vorteil mit sich: Tick, Tick … Boom! funktioniert sowohl für Musical-Fans, als auch für die, die eigentlich wenig mit dem Genre anfangen können.
Das bedeutet nicht, dass der Film von leicht kitschigen Emotionen und einer ordentlichen Schippe Pathos befreit ist. Doch solche Momente werden im Kontext von Jonathans Bühnenumsetzung der Ereignisse viel nachvollziehbarer. Tick, Tick … Boom! will den Zuschauer:innen nie weiß machen, dass sie die faktisch korrekte Realität erleben. Ganz im Gegenteil: durch die Rahmenhandlung ist klar, dass das Gezeigte eine kreative Umsetzung und Wiedergabe der Realität ist. Eine tief persönliche Nacherzählung, in der Emotionen ruhig aufgebläht sein können, und es nicht mal irritiert, wenn aus dem Nichts getanzt und gesungen wird.
Apropos tanzen und singen: auch die Musik wirkt im Vergleich zu Genre-Kollegen bei Tick, Tick … Boom! außergewöhnlich ruhig und geerdet. Mit der Ausnahme weniger Abstecher ins Rockmusik-Genre, werden die vergleichsweise wenigen Songs oft nur von einer handvoll Personen und Instrumenten umgesetzt, wodurch sie sich organisch in die intime Atmosphäre des Films einfügen.
So sind die musikalischen Elemente nur selten dazu gedacht, bombastische Let it go-Evergreens mit Hitpotenzial auf die Leinwand zu komponieren. Tick, Tick … Boom! bietet zwar auch Futter für die Liebhaber:innen von großen Szenen voller fröhlich singender Statisten, doch der Hauptfokus ist stets das Verstärken der Geschichte durch pointierte Augenblicke.
Die Musik stiehlt der Handlung dadurch nie das Spotlight, was allerdings den Nebeneffekt hat, dass weniger Songs über den Film hinaus im Kopf bleiben. Neben der fantastischen Eröffnungsnummer 30/90 hätten ein, zwei mehr Tracks mit Ohrwurm-Gefahr dem Film gutgetan.
Der große Star des Films bleibt trotz aller inszenatorischen Finesse allerdings sein Hauptdarsteller. Andrew Garfield verkörpert Jonathan Larson mit einer Energie und Leidenschaft, die wie ein Wirbelsturm durch den Film reißt. Konstant auf der Grenze zwischen brodelnder kreativer Energie und tiefen Versagensängsten fühlt sich seine Performance selbst wie die titelgebende Zeitbombe an. Inmitten von Musical-Proben, Beziehungskrisen und Nebenjobs spürt man die wallend tickende Energie in Garfields Darstellung von Sekunde zu Sekunde in Richtung einer unvermeidbaren Explosion ansteigen.
Noch erstaunlicher ist dabei, dass Garfield beinahe alle Songs des Filmes im Alleingang auf seinen Schultern trägt. Von ruhigen Klavierstücken über energiereiche Duetts bis zu den großen Musical-Emotionen, Andrew Garfield ist das singende, tanzende Multitalent von Tick, Tick … Boom! und das brillante Herzstück des gesamten Filmes. Eine geniale Performance, die das Musical-Genie Larson in eine der nahbarsten Figuren des Jahres verwandelt und gleichzeitig eine sensible Charakterstudie über die erdrückende Angst des Versagens erzählt.
…The Oscar should go to Andrew Garfield.
Eine Liebeserklärung für den kreativen Geist, das Showbusiness, Musik und vor allem für einen Künstler, der die Musical-Welt nachträglich beeinflusste. Für diese Verneigung hat der Film in Lin-Manuel Miranda den perfekten Regisseur gefunden. Mit einer riesigen Leidenschaft für Musicals verbindet Miranda Teile der originalen Bühnenversion mit filmischen Elementen und setzt Larson gleichzeitig ein nostalgisches Denkmal. Der große Star des Filmes ist jedoch Andrew Garfield, der die stellenweise pathetische Handlung durch seine lebendige und sympathische Performance ausbügelt und elektrisiert. Tick, Tick … Boom! gehört zu den großen Netflix-Hits des Jahres, der auch für Nicht-Musical-Fans einen Blick wert sein könnte.
Artikel vom 29. November 2021
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