Kritik: Vortex
AM ENDE ALLEIN
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Für das von Dario Argento und Françoise Lebrun gespielte Ehepaar hat der letzte Lebensabschnitt begonnen. Und obwohl beide in Paris in ihrer Wohnung voller gemeinsamer Erinnerungen und Geschichte leben, treibt sie das hohe Alter Tag für Tag ein Stück weiter auseinander. Während der Ehemann sich voll und ganz in das Verfassen und die Veröffentlichung eines Buches steigert, erkrankt seine Frau immer stärker an Demenz und irrt alleine und desorientiert durch die Flure der Wohnung oder die Pariser Straßen. So rückt das Ende ihres Lebensweges immer näher, auf dem beide die letzten Schritte alleine gehen müssen.
Nur wenige Filmemacher:innen erzeugen alleine durch die Nennung ihres Namens eine so klar definierte Erwartungshaltung wie der französische Regisseur Gaspar Noé. Filme wie Irreversibel oder Enter the Void schlugen im Publikum wie ein brutaler Keil ein, der die Zuschauer:innen bis heute in zwei Lager teilt. Die einen feiern Noé für seine schonungslosen Darstellungen von menschlichen Abgründen und Gewalt, während andere sich von der oft schonungslosen Grausamkeit abgestoßen fühlen. Eine Meinung in der Mitte gibt es nicht.
Auch wir haben in unserem Podcast schon über den Skandalregisseur und seine oft düstere Perspektive auf die Welt und den Menschen diskutiert. Braucht es Filme, die derart hoffnungslos und verbittert auf unsere Gesellschaft blicken, oder verliert sich Noé in seiner zynischen Vorstellungskraft?
„Ich lache gerne über grausame Dinge, denn das Leben ist grausam.“
Gaspar Noé
Vortex wirkt beinahe wie Noé’s bewusster Konter auf diese Frage. Auch sein neuer Film ist durchzogen von Pessimismus, Trauer und schonungsloser Härte, doch das meist diskutierte Noé-Merkmal fehlt: die körperliche Gewalt. Der Film kommt ohne minutenlange Vergewaltigungen, explizite Morde oder animalische Triebe aus. Nichtmal ein Tropfen Blut fällt über die zweieinhalb Stunden Laufzeit. Stattdessen sucht der Film seine emotionale Gewalt in einem Thema, das sehr viel näher am Alltag der meisten Zuschauer:innen sein wird: im unumkehrbaren Prozess des Alterns.
Wie schon The Father (2020), wählt Vortex dafür die Perspektive einer an Demenz erkrankten Person. Im Gegensatz zu Florian Zellers fokussierter Beobachtung des Krankheitsbildes, geht es Noé jedoch um eine breitere Beschäftigung der Thematik des Altwerdens. Themen wie Einsamkeit, Vergänglichkeit und das Sterben selbst spricht der dabei mit einem ungeschönten Realismus an, dass es einem nicht selten die Kehle zuschnürt.
Doch die Wahl einer ernsten und nahbaren Thematik in einem wirklichkeitsnahen Kontext ist es, was den Film von Noé’s früherer Filmografie abgrenzt. Denn zwischen all der Hoffnungslosigkeit findet sich diesmal auch Menschliches.
Es wirkt fast so, als würde uns Noé zeigen wollen, dass sein düsterer Pessimismus und dessen emotionale Wucht auch ohne eingeschlagene Schädel funktioniert und eine Daseinsberechtigung hat. Und das Experiment glückt. Vortex reißt die Mauer der oberflächlichen Verstörung ein und trifft einen wunden Punkt, der wirklich mit dem Publikum resoniert, anstatt nur mit schockierenden Schauwerten zu blenden.
Was man Noé trotz aller inhaltlichen Kontroversen nie aberkennen konnte, ist seine kreative Experimentierfreude hinter der Kamera. Gleitende Kamerafahrten, die in minutenlangen Einstellungen um seine Akteure herumschweben oder hypnotische, in Neonfarben getauchte Tanzsequenzen – Noé’s Bilder gehen nie den einfachen oder offensichtlichen Weg.
Wer den Trailer oder auch nur eine Szene aus Vortex gesehen hat, wird bereits unschwer erkannt haben, dass der Film außergewöhnliche Bildsprache auf die Spitze treibt, denn fast die gesamten 135 Minuten Spielzeit finden im Splitscreen statt. Nach einigen Minuten anfänglicher Normalität, zieht sich eine dicke schwarze Linie langsam von oben nach unten durch die Szene, und trennt das Bild bis zum Ende in zwei Hälften.
Vortex bricht hier so stark mit unseren normalen Sehgewohnheiten, dass es unmöglich ist, alle Informationen, die der Film uns gibt, bei nur einer Sichtung wahrzunehmen. Meistens bleibt unser Blick auf einer der beiden Hälften hängen, während man beinahe komplett ausblendet, was in der anderen gerade geschieht. Dem Film gelingt es, durch dieses geniale Konzept eine ähnliche konstante Verwirrung zu vermitteln, wie die beiden Protagonist:innen sie fühlen. Sobald man als Zuschauer:in den Fokus von einer Hälfte auf die andere verlegt, fühlt sich Vortex wie ein desorientiertes Erwachen an. Wie ist die Figur nochmal an diesen Ort gekommen? Was wollte sie dort? Was ist überhaupt die letzten 20 Minuten passiert?
Gleichzeitig sorgen die getrennten Bilder für eine enorm unangenehmes Spannungsverhältnis zwischen beiden Hälften. So kontert Vortex hochemotionale und schockierende Szenen auf der einen Hälfte mit vollkommen ruhigen und entschleunigten Momenten auf der anderen Seite. Noé spiegelt hier die Einsamkeit und Entfremdung seiner beiden Protagonist:innen in einer schonungslosen Bildmetapher wider, und trifft damit den emotionalen Nagel auf den Kopf. Zu sehen, wie sich derartig konträre Szenen gleichzeitig auf derselben Leinwand abspielen, erschafft Anspannung und ein Unwohlsein, das sich kaum beschreiben lässt. Dafür muss man Vortex selbst erlebt haben.
Vortex kommt daher, als würde Gaspar Noé seinen Kritiker:innen auf eindrucksvolle Weise demonstrieren wollen, dass er keine explizit, verstörende Gewalt braucht, um eindrucksvolles Kino zu schaffen. Ganz ohne abgetrennte Körperteile oder Drogenexzesse erzählt der Film eine brutal ehrliche und unmittelbare Geschichte über den letzten Lebensabschnitt zweier Menschen. Unterstützt von einer einzigartigen Inszenierung und gewaltiger Bildsprache schlägt Noé der Film eine neue filmische Richtung ein, die das Wesen seiner Filme beibehält, dieses jedoch in einen nahbaren und dadurch umso intensiveren Kontext einbettet. Zuschauer:innen, die emotional hartes Kino aushalten können, sollten sich Vortex unbedingt anschauen – auch wenn sie zuvor noch nichts mit Gaspar Noé anfangen konnten.
Artikel vom 9. Mai 2022
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