Body Horror und tote Hundebabys
Auch wenn sich der Großteil des Horrors im Kopf abspielt, stellt Chernobyl unseren Magen ein- bis zweimal auf die Probe. Was es bedeutet, an einer akuten Strahlenkrankheit zu sterben, wurde vermutlich noch nie so drastisch auf Film festgehalten. Doch spätestens, als ein Team von Soldaten alle Tiere im Umkreis des Kraftwerks erschießen muss, und Haushunde unschuldig in Gewehrmündungen blicken, dürften einige Zuschauer den Abort-Knopf gedrückt haben.
Dennoch fühlt es sich nie so an, als würde Chernobyl auf reinen Shock Value abzielen. Im Gegenteil, laut des Regisseurs wurden einige Ereignisse sogar weniger drastisch gezeigt, um die Zuschauer nicht komplett zu überfordern. Die Darstellung der Katastrophe wirkt zu jedem Zeitpunkt ehrlich und sachlich.
Betonbau-Romantik
Die UdSSR ist ein untypisches Filmsetting, beinahe schon ein mysteriöser schwarzer Fleck in der jungen Historie, der für Hollywood und Co. meist nur für altbackene Agentenfilme in Frage kommt. Umso atmosphärischer, mystischer und fremder erscheint die detailgetreue Darstellung des Alltags in der Sowjetunion, die von Regisseur Johan Renck und Drehbuchautor Craig Mazin sorgfältig recherchiert wurde, mit Hilfe von Historikern und Zeitzeugen.
Die farblosen Beton-Dschungel der sowjetischen Vororte, die kalten Neonlichter und das spartanische Interieur der öffentlichen Gebäude tränken Chernobyl in eine beinahe schon depressive Grundstimmung. Alles ist hoffnungslos und trist, und dennoch lassen die Menschen jene Trostlosigkeit einfach abperlen, während sie ihrem Alltag nachgehen. Auch ohne GAU wäre die Serie ein atmosphärisches und hochinteressantes Gesellschaftsdrama gewesen.
Größter anzunehmender Unfall
Eine Serie über die Explosion eines atomaren Reaktors könnte ziemlich antiklimatisch ausfallen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Mit jeder Folge lässt die Serie die Spannung immer weiter hochkochen, ohne sich dabei selbst zu wiederholen. Jede der fünf Episoden unterscheidet sich von den anderen, beleuchtet unterschiedliche Facetten des Unfalls und reiht sich nahtlos in das Gesamtkonzept der Story ein. Das wahre Ausmaß der Katastrophe wird erst ganz zum Schluss ersichtlich.
Eine runde Sache
Katastrophendramen stehen oft vor der Frage, ob eine chronologische Erzählweise wirkungsvoll ist. So hat sich z.B. Clint Eastwoods Sully, der Film über die zehnminütige Notwasserung eines Passagierflugzeugs im Hudson River, auf ein Patchwork artiges Storytelling gesetzt, um die wenigen Minuten an dramatischem Material nicht auf einmal zu verballern.
Chernobyl erzählt die Ereignisse chronologisch. Wir sehen die Explosion, die Strahlenkranken, die Evakuierung und die Kontaminierung in einer logischen und nachvollziehbaren Reihenfolge, wissen dementsprechend aber immer genauso wenig wie die Charaktere selbst. Unsere Lernkurve ist die Lernkurve der Wissenschaftler, die Stück für Stück die Katastrophe zu verstehen beginnen.
Das wahre Kunststück gelingt der Serie mit der letzten Episode; ein Gerichtssaal-Thriller, der sämtliche Ereignisse nochmal neu aufrollt, Geheimnisse aufdeckt und wissenschaftliche Antworten liefert – ebenso wie in der finalen Verhandlung von Sully, welche die exakte Abfolge der Katastrophe nochmal durch spielt. Besser hätte man die Geschichte um Tschernobyl nicht strukturieren können.
Harris und Skarsgård als tragische Helden
Nicht alles in Chernobyl ist trist und hoffnungslos. Die beiden Hauptcharaktere Legassow (Jared Harris) und Schtscherbina (Stellan Skarsgård), ein Wissenschaftler und ein Politiker, die sich mit ihren konträren Mindsets vorerst abstoßen, wachsen über die Folgen hinweg zu einem faszinierenden Duo zusammen.
Hallo,
guter Artikel, die Serie war der Hammer, deswegen habe ich meine Facharbeit diesem Thema gewidmet. Da ich mich ausgiebig mit dem Thema beschäftigt habe, bin ich mir ziemlich sicher, dass sich der Unfall am 26. April und nicht wie oben beschrieben am 24. April 1986 ereignet hat. Das ist ein wichtiges Datum, und sollte in dem Artikel noch geändert werden. LG
Hallo Michaela,
vielen Dank für deinen Hinweis – das haben wir natürlich sofort berichtigt!
Viele Grüße
Sandro