Kritik: Chernobyl (Miniserie)
ATOMKRAFT? NEIN DANKE.
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ATOMKRAFT? NEIN DANKE.
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Jeder weiß so ungefähr, was am 26. April 1986 in der Ukraine passiert ist. Atomkraftwerk, Bumm, Naturkatastrophe. Doch wie kam es zum Supergau und wie sehr musste die umliegende Bevölkerung darunter leiden? Was ist in der Nacht der Explosion wirklich passiert und wie viele Todesopfer hätten vermieden werden können?
Im Zentrum stehen Chemiker Walen Legassow (Jared Harris, The Terror) und Politiker Boris Schtscherbina (Stellan Skarsgård), die nach dem Unfall die Untersuchungs- und Rettungsaktionen leiteten. Die Suche nach der Wahrheit erweist sich als unerbittlicher Kampf gegen das repressive Regierungssystem.
Die verstörende Geschichte um Tschernobyl wurde von der Sowjetunion lange Zeit totgeschwiegen; aus Scham und Verdrängung. Doch die Sky-Miniserie setzt nun die Puzzleteile zusammen und beleuchtet das Ereignis aus allen Blickwinkeln. Wir sehen die überforderten Atomphysiker im Kraftwerk, die ignorante Regierung im Kreml, die ahnungslose Bevölkerung im umliegenden Prypjat und die mutigen Soldaten, die im Kampf gegen die Strahlung ihr Leben riskierten.
Im Gegensatz zu vielen anderen Filmtiteln, die auf wahren Ereignissen beruhen, dramatisiert Chernobyl nur sehr wenig – denn harte Fakten sind dramatisch genug. Das Szenario wurde bereits für Zombie-Horror und ähnliches missbraucht, doch Chernobyl erinnert einen daran, dass nichts schrecklicher als die Realität ist.
Radioaktive Strahlung sieht man nicht und hört man nicht. Filmisch gesehen ist das eine echt miese Ausgangssituation. Doch Chernobyl nutzt die Unsichtbarkeit des Feindes zu seinem Vorteil und erzeugt Spannung und Horror auf derart innovative Weise, wie wir sie schon lange Zeit nicht zu spüren bekamen. Besonders effektiv ist der Soundtrack von Hildur Guðnadóttir, für den die isländische Komponistin Samples aus einem funktionsfähigen Kernkraftwerk aus der Sowjetzeit aufgenommen und verarbeitet hat.
Das nervenaufreibende Klackern des Geigerzählers gehört spätestens nach Chernobyl zu den verstörendsten Geräuschen überhaupt. Ähnlich wie die Stuka-Sirenen aus Dunkirk wird dieses Geräusch als filmisches Motiv für Gefahr eingesetzt. Sobald ein Team von Freiwilligen in die düsteren Schächte des Kraftwerks abtaucht, um eine zweite Explosion zu verhindern, und man nur ein klackerndes Rauschen in der Dunkelheit hört, hält jeder Zuschauer die Luft an, aus Angst, man könne versehentlich radioaktive Luft einatmen.
Ähnlich dramatisch ist der Tracking-Shot eines Soldaten, der innerhalb von 90 Sekunden radioaktiven Schrott vom Dach des Kraftwerks entfernen soll. Obwohl absolut nichts verstörendes zu sehen ist, spielt sich im Kopf des Zuschauers der wahre Terror ab – beinahe unvorstellbar, welche Furcht die Helfer von Tschernobyl erfahren mussten. Nicht umsonst ist auch heute noch das psychische Syndrom “Chernobyl PTSD” ein Begriff.
Auch wenn sich der Großteil des Horrors im Kopf abspielt, stellt Chernobyl unseren Magen ein- bis zweimal auf die Probe. Was es bedeutet, an einer akuten Strahlenkrankheit zu sterben, wurde vermutlich noch nie so drastisch auf Film festgehalten. Doch spätestens, als ein Team von Soldaten alle Tiere im Umkreis des Kraftwerks erschießen muss, und Haushunde unschuldig in Gewehrmündungen blicken, dürften einige Zuschauer den Abort-Knopf gedrückt haben.
Dennoch fühlt es sich nie so an, als würde Chernobyl auf reinen Shock Value abzielen. Im Gegenteil, laut des Regisseurs wurden einige Ereignisse sogar weniger drastisch gezeigt, um die Zuschauer nicht komplett zu überfordern. Die Darstellung der Katastrophe wirkt zu jedem Zeitpunkt ehrlich und sachlich.
Die UdSSR ist ein untypisches Filmsetting, beinahe schon ein mysteriöser schwarzer Fleck in der jungen Historie, der für Hollywood und Co. meist nur für altbackene Agentenfilme in Frage kommt. Umso atmosphärischer, mystischer und fremder erscheint die detailgetreue Darstellung des Alltags in der Sowjetunion, die von Regisseur Johan Renck und Drehbuchautor Craig Mazin sorgfältig recherchiert wurde, mit Hilfe von Historikern und Zeitzeugen.
Die farblosen Beton-Dschungel der sowjetischen Vororte, die kalten Neonlichter und das spartanische Interieur der öffentlichen Gebäude tränken Chernobyl in eine beinahe schon depressive Grundstimmung. Alles ist hoffnungslos und trist, und dennoch lassen die Menschen jene Trostlosigkeit einfach abperlen, während sie ihrem Alltag nachgehen. Auch ohne GAU wäre die Serie ein atmosphärisches und hochinteressantes Gesellschaftsdrama gewesen.
Eine Serie über die Explosion eines atomaren Reaktors könnte ziemlich antiklimatisch ausfallen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Mit jeder Folge lässt die Serie die Spannung immer weiter hochkochen, ohne sich dabei selbst zu wiederholen. Jede der fünf Episoden unterscheidet sich von den anderen, beleuchtet unterschiedliche Facetten des Unfalls und reiht sich nahtlos in das Gesamtkonzept der Story ein. Das wahre Ausmaß der Katastrophe wird erst ganz zum Schluss ersichtlich.
Katastrophendramen stehen oft vor der Frage, ob eine chronologische Erzählweise wirkungsvoll ist. So hat sich z.B. Clint Eastwoods Sully, der Film über die zehnminütige Notwasserung eines Passagierflugzeugs im Hudson River, auf ein Patchwork artiges Storytelling gesetzt, um die wenigen Minuten an dramatischem Material nicht auf einmal zu verballern.
Chernobyl erzählt die Ereignisse chronologisch. Wir sehen die Explosion, die Strahlenkranken, die Evakuierung und die Kontaminierung in einer logischen und nachvollziehbaren Reihenfolge, wissen dementsprechend aber immer genauso wenig wie die Charaktere selbst. Unsere Lernkurve ist die Lernkurve der Wissenschaftler, die Stück für Stück die Katastrophe zu verstehen beginnen.
Das wahre Kunststück gelingt der Serie mit der letzten Episode; ein Gerichtssaal-Thriller, der sämtliche Ereignisse nochmal neu aufrollt, Geheimnisse aufdeckt und wissenschaftliche Antworten liefert – ebenso wie in der finalen Verhandlung von Sully, welche die exakte Abfolge der Katastrophe nochmal durch spielt. Besser hätte man die Geschichte um Tschernobyl nicht strukturieren können.
Nicht alles in Chernobyl ist trist und hoffnungslos. Die beiden Hauptcharaktere Legassow (Jared Harris) und Schtscherbina (Stellan Skarsgård), ein Wissenschaftler und ein Politiker, die sich mit ihren konträren Mindsets vorerst abstoßen, wachsen über die Folgen hinweg zu einem faszinierenden Duo zusammen.
Die beiden bereichern die Serie mit einer willkommenen Note Menschlichkeit, um uns Zuschauer emotional zu ankern. Selbst die wissenschaftlichen Aspekte der Katastrophe werden von Legassow auf so einleuchtende und greifbare Weise erklärt, dass selbst ein Kleinkind danach versteht was Kernfusion bedeutet.
Wissenschaftlerin Ulana Khomyuk, die wertvolle Detektivarbeit leistet, um den Reaktorunfall aufzuklären, ist ein fiktiver Charakter der Drehbuchautoren, der die Gruppe an Wissenschaftlern symbolisiert, welche an der Aufarbeitung der Katastrophe beteiligt waren. Diese Entscheidung der künstlerischen Freiheit ist richtig und nachvollziehbar, um der Männer dominanten Geschichte einen weiblichen Charakter mit Identifikationspotential zu geben.
Die aufklärende Wirkung von Chernobyl ist immens. Eine vernichtende Post-Credit-Collage mit aufklärenden Informationen jagt uns Zuschauern das letzte Mal einen Schauer durch den Körper.
Nicht die letzte Staffel Game of Thrones, sondern diese Miniserie ist der Triumph des amerikanischen Fernsehsenders. Ja, Chernobyl ist in allen Belangen perfekt. Die fünf Episoden strotzen vor kraftvollen Szenen und erzählen die tragische Geschichte in einem dramaturgisch vollwertigen Handlungsbogen, der mitreißend, aufklärend und abartig spannend ist. Die Serie traumatisiert und schockiert, ohne auf billigen Schockfaktor zu setzen, und ist aufgrund ihrer Authentizität so unglaublich faszinierend. Chernobyl brennt sich ein, hallt nach, und ist womöglich eine der packendsten und rundum perfektesten TV-Staffeln aller Zeiten.
Artikel vom 15. Juni 2019
Hallo,
guter Artikel, die Serie war der Hammer, deswegen habe ich meine Facharbeit diesem Thema gewidmet. Da ich mich ausgiebig mit dem Thema beschäftigt habe, bin ich mir ziemlich sicher, dass sich der Unfall am 26. April und nicht wie oben beschrieben am 24. April 1986 ereignet hat. Das ist ein wichtiges Datum, und sollte in dem Artikel noch geändert werden. LG
Hallo Michaela,
vielen Dank für deinen Hinweis – das haben wir natürlich sofort berichtigt!
Viele Grüße
Sandro