Kritik: Marvel’s Jessica Jones – Staffel 2
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Nachdem Kilgrave (David Tennant) besiegt wurde, kann sich Jessica Jones (Krysten Ritter) wieder ausschließlich der Detektivarbeit und dem Alkohol widmen. Eine Mordreihe weckt jedoch ihre Aufmerksamkeit, denn sie ist mit dem Medizinunternehmen IGH verknüpft – das Unternehmen, das (vermutlich) für Jessicas Superkräfte verantwortlich ist. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin Trish (Rachael Taylor) und ihrem „Mitarbeiter“ Malcolm (Eka Darville) sucht sie alle verstreuten Puzzleteile zusammen, um die Morde aufzuklären. Doch sobald das gesamte Bild erkennbar wird, muss sich Jessica einem lang verschollenen Geist aus ihrer Vergangenheit stellen…
Im Gegensatz zur ersten Staffel, die innerhalb weniger Folgen von 0 auf 100 beschleunigte und uns mit Kilgrave-Wahnsinn fütterte, ist die Fortsetzung wesentlich behutsamer. Die ersten vier bis fünf Folgen bleiben in ihrer Komfort-Zone und setzen viel mehr auf Slow-Burn statt Instant-Action. Das Tempo erinnert dabei mehr an Formate wie Breaking Bad, die sich selbstbewusst die Zeit nehmen, Charaktere und Konflikte sorgfältig zu zeichnen.
Langweilig ist die zweite Staffel aber von Anfang an nicht. Der Geruch einer heftigen Entladung liegt in der Luft, die zu jedem Zeitpunkt einschlagen könnte. Anders als in The Defenders, ist das ewige Umschiffen des Mysteriums nicht ermüdend, sondern effektiv. Die Binge-Sucht setzt früh genug ein!
Tatsächlich gibt es zur Staffelmitte einen verdammt großen Twist, der den Zuschauer für seine Geduld auszahlt. Um was es genau geht, verrate ich natürlich nicht. Doch diese Wendung stellt alles auf den Kopf und gibt der zweiten Staffel einen ganz eigenen Charakter. Spätestens jetzt sind alle Zweifel in den Wind geschlagen, dass die zweite Staffel der Ersten nicht das Wasser reichen könne.
Im Gegensatz zur ersten Staffel, die sich ein paar Vorwürfe des „diskriminierenden“ Feminismus anhören musste, da männliche Rollen absolut nichts Positives beizutragen hatten, lernt Staffel 2 mächtig dazu. Frau und Mann sind auf einer Ebene. Rollen beider Geschlechter haben ihre Stärken und Schwächen.
Wie das aussieht, zeigt vor allem eine Szene hervorragend: Nachdem Jessica in einer Bar ein „Nice Ass!“ hinterhergerufen bekommt und man eine Faust ins Gesicht erwartet, landet sie Sekunden später mit dem selben Mann in der Klokabine. Auch Hollywoods „Sexual Predator“ bekommen ihr Fett weg, indem in einer Nebenhandlung aufgedeckt wird, dass Trish als junge Teenagerin von ihrem Produzenten sexuell missbraucht wurde. Doch letztendlich missbraucht Trish diesen Vorfall als Erpressungsmittel. Die Geschlechter-Konflikte werden stets ambivalent aufgegriffen und von beiden Seiten beleuchtet. Das ist mutig und dennoch ein Schritt in die richtige Richtung.
Staffel 2 spricht aber noch viel mehr brisante Themen an, ohne diese rechthaberisch bewerten zu wollen. Da wäre ein Wissenschaftler mit Gott-Komplex (Callum Keith Rennie), der gute Absichten verfolgt und dennoch über Leichen geht. Eine andere Rolle spielen Junkies und Ex-Junkies und wie sich ihre (überwundene) Sucht auf Körper, Geist und Umfeld auswirkt. Der Drogenkonsum verleiht vor allem Trish, Jessicas unterstützender Charakter, die nötigen Ecken und Kanten. Rachael Taylor, die in der ersten Staffel eher blass blieb, wächst in den neuen Folgen über sich hinaus.
Carrie-Anne Moss als Rechtsanwältin Jeri Hogarth (sonst auch bekannt als Trinity aus Matrix) wird ein eigener Side-Plot gegeben. Zunächst wirkt dieser wie ein Lückenfüller. Jeri ist todkrank und befindet sich in einer Existenzkrise. Doch die Nebengeschichte, die sich hin und wieder mit Jessicas Haupthandlung überschneidet, wird immer spannender und verspricht einen gelungenen Twist, den man kaum kommen sieht.
Diesbezüglich war Marvel mutig. David Tennant als Kilgrave war ein Marvel-Schurke, sie alle zu knechten – damit ist ein Nachfolger natürlich schwer zu finden. Ähnlich muss es Christopher Nolan nach The Dark Knight ergangen sein, einen würdigen Nachfolger für den Joker zu erschaffen, der nicht schon im bloßen Vergleich verblasst. Doch Showrunnerin Melissa Rosenberg umgeht das Problem und erschafft einen Bösewicht, der mit Kilgrave absolut nicht vergleichbar ist. Ebenso angsteinflößend ist er (oder sie?) definitiv.
Die gesamte zweite Staffelhälfte lebt von der Beziehung zwischen Jessica und dem anonymen Schurken, welche, noch mehr als in der ersten Staffel, von sehr persönlicher Natur ist. Herausragend ausgearbeitete moralische Dilemmas und tiefsitzende Konflikte gehen mit der Einführung des Gegenspielers einher. Damit werden neue Standards für das gesamte Marvel Cinematic Universe gesetzt, denn so menschlich haben wir das Franchise noch nie gesehen.
Dauerhaft betrunken, schlecht gelaunt und desinteressiert – mit so einem kaputten Charakter will man sich eigentlich nicht verbinden. Dabei hat der „Anti-Held“ im Superhelden-Genre die genau gegenteilige Wirkung: Er soll die Distanz zwischen Zuschauer und Held aufheben. Statt Halbgötter wollen wir gebrochene Menschen sehen, die erst herausfinden müssen, wie sie ihre übernatürlichen Gaben einsetzen können.
Jessica Jones ist als Anti-Heldin ein Paradebeispiel: Unter ihrem misanthropischen und sarkastischen Deckmantel zeigt sich immer wieder ein weicher Kern, eine Zerbrechlichkeit, die ihrer schweren Vergangenheit geschuldet ist. Jessica gibt sich distanziert und gleichgültig, doch wenn sie mit dem Leid anderer Menschen konfrontiert wird, zeigt sie eine starke Empathie, die Krysten Ritter allein durch ihre ausdrucksstarke Mimik darstellen kann. Ihre Performance ist derart vielschichtig und in sich schlüssig, dass einem nichts anderes übrig bleibt, als sich mit ihr zu identifizieren. Besonders im Zusammenspiel mit J.K. Ramirez als neuer Nachbar Oscar , für den Jessica ein Auge zu haben scheint, taut ihre kalte Fassade immer wieder auf.
Eine Flashback-Episode erklärt weitgehend, woher Jessicas vorgespielte Apathie überhaupt kommt. Dieser Rückblick ist ergreifend, maßgeblich wegen Ritters großartiger Schauspielleistung. Erst jetzt realisiert man, dass es den restlichen „Defenders“ einfach an Tiefe fehlt. So unterhaltsam Dare Devil und Luke Cage auch sein mögen, in den nächsten Staffeln muss deren Drehbuch ordentlich nachlegen. Vor allem, was sitzende Punchlines angeht, die Jessica Jones im Minutentakt liefert:
„Wenn du jetzt sagst ‘Aus großer Macht folgt große Verantwortung’ kotze ich dich voll. Ich schwör’s.“
Jessica Jones
Viele werden die zweite Staffel allein wegen Kilgraves Abwesenheit fallen lassen. Tatsächlich versucht die Fortsetzung auch überhaupt nicht, an den Wahnsinn der ersten Staffel anzuknüpfen. Alles wirkt kleiner und persönlicher. Man konzentriert sich auf Charakterentwicklung und Konflikte, die sich eher im Subtext als im Vordergrund abspielen. Dementsprechend ist der ausgefallene, neue Bösewicht absolut passend gewählt, der sich überhaupt nicht mit Kilgrave messen muss. Eigentlich könnten Staffel 1 und 2 einfach die Plätze tauschen, denn es scheint so, als ob erst jetzt die Charaktere richtig eingeführt wurden. Die zweite Staffel Jessica Jones ist vollkommen unerwartet ein kleines Meisterwerk geworden, das nicht jeden begeistern wird, aber vor allem diejenigen anspricht, die eine Ruhe vom Superhelden-Gewitter brauchen und sich auf eine fesselnde Charakterstudie einlassen möchten.
Artikel vom 13. März 2018
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