Die Sensationsgeilheit der Serien-Community
Das Spin-Off zum Meilenstein der TV-Geschichte Breaking Bad geht ziemlich unter. Die Einschaltquoten nehmen gegenüber der ersten Better Call Saul-Staffel stetig ab. Trotz hervorragender Pressestimmen scheinen einige Zuschauer der Serie nichts abgewinnen zu können. Woran liegt das denn?
Die Erklärung ist ziemlich leicht. Der Serie fehlt es an Exzess und Sensation. Es gibt kein Blut und keine unerwarteten Tode, es wird nicht gekämpft, nicht geballert und es gibt schon gar keine nackten Frauen. Das einzig nackte ist Jonathan Banks unförmiger Glatzkopf. Man könnte also fast meinen, dass in Better Call Saul kaum etwas passiert. Ein riesiger Trugschluss.
Eine subtile Charakterstudie
Wie schon beim großen Bruder Breaking Bad, stehen einzig und allein die Menschen im Vordergrund. Hier sehen wir ECHTE, und dennoch fiktive Charaktere. Niemand hat eine Schablonen-Persönlichkeit oder einen Alibi mäßigen „inneren Konflikt“. Bis in die kleinste Nebenrolle ist jede Figur greifbar, authentisch, ausgefeilt und einzigartig.
Schon die erste Staffel hat den Charakter von Jimmy McGill brillant eingeführt. Staffel zwei setzt noch einen drauf. Bob Odenkirk schafft es, einen vielschichtigen Protagonisten aufzubauen, der nie langweilt und stets umwerfend sympathisch ist. Egal wie verdreht Jimmys Rechtfertigungen für einige Taten am Rande des Gesetzes sein mögen: Der Zuschauer wird zu Jimmy. Schritt für Schritt konstruiert die Serie ein emphatisches Geflecht, dass uns sogar emotional mitreißt, wenn Jimmy seinen Kaffee verschüttet oder Stress im Kopiergeschäft hat.
Während Jimmys Freundin Kim Wexler (Rhea Seehorn) in der ersten Staffel eher in den Hintergrund rücken musste, bekommt sie in Runde zwei erstaunlich viel Screentime. Ihr Charakter wächst und harmoniert perfekt mit Odenkirk’s Performance. Kim ist gutmütig und aufrichtig. Immer wieder wird ihr Leben jedoch von Jimmy gelenkt; mal bewusst, mal unbewusst. Trotzdem gibt sie ihr Bestes um Jimmy auf der richtigen Bahn zu halten. Eine Vornahme, für die sie teuer bezahlen muss.
Kim und Bruder Chuck liefern sich ein sinngemäßes Tauziehen in Jimmys Kopf. Während Kim die ehrenwerte Seite Jimmys stärken will, verursacht Chuck eher das Gegenteil: Er gräbt den „Saul“ aus der bunten Garderobe von Jimmys Wandschrank.
Brüderrivalität
Chucks Vorbildfunktion für Jimmy ist zerbröckelt. In Staffel eins haben wir erfahren, dass sein großer Bruder ihm regelmäßig Steine in den Weg seiner Karriere gelegt hat. Jimmy ist seiner Auffassung unwürdig, ein echter Anwalt zu werden. Er sei ein „Affe mit Waffe“ und müsse kontrolliert werden. Jimmy, der sich mit Hingabe um seinen kranken Bruder kümmerte, ist dadurch natürlich am Boden zerstört.
Dieser Konflikt ist das zentrale Thema der Serie Better Call Saul. Natürlich sind wir loyal zu Jimmy. Doch die Genialität der Drehbuchautoren lässt kein Schwarz-Weiß-Denken zu. Immer wieder stehen wir als Zuschauer über dem Geschehen. Wir sind die juristische Instanz, die über den Köpfen der beiden Brüder schwebt. Einerseits wollen wir natürlich nur das beste für Jimmy. Andererseits wissen wir nur zu gut, dass Chuck, so zynisch es auch sein mag, Recht hat. Denn Jimmy wird zu Saul Goodman werden; das ist die einzige Gewissheit der Serie. Und dann trifft es in der Tat auch Unschuldige mit Querschlägern. Es ist eben ein wahrer „Konflikt“.
Chuck ist wohl einer der interessantesten „Gegenspieler“ der aktuellen TV-Landschaft. Erst zum bitteren Ende der ersten Staffel offenbart er sich als wahrer Antagonist der Serie. Doch diese Enthüllung wird in Staffel zwei konsequent weitergeführt. Auch wenn immer wieder die Zuneigung der beiden Brüder einen Weg zurück findet, setzen sie ihre Vorstellung mit eiserner Hand durch. Es folgt ein wahres Psychoduell. Jimmy und Chuck manipulieren, tricksen und schwindeln was das Zeug hält. Alles nur, weil jeder der bessere Anwalt sein will.
Diese kindisch erscheinende Fehde sitzt allerdings sehr tief. In mehreren Flashbacks sehen wir die Entstehung dieses unterschwelligen Streits. Auch wenn wir eher „genug“ als „viele“ Informationen über die Vergangenheit bekommen, hält die Serie dabei eine Taschenlampe in Chucks Gesicht, und zeigt uns, dass er in Wirklichkeit gar kein Monster ist.
Elektrisierende Spannung, nicht nur für Chuck unerträglich
Chucks mysteriöse Krankheit, die Allergie gegen Elektrizität, macht ihm auch in zweiten Staffel zu schaffen. Obwohl jedem mittlerweile klar sein sollte, dass Chuck psychisch schwerkrank ist, wird es in der Serie kaum zur Sprache gebracht. Wir als Zuschauer nehmen diese Ungewissheit einfach hin, genauso wie Jimmy.
In diesem Zusammenhang gibt es in der zweiten Staffelhälfte einige hochspannende Szenen. Auch hier wirkt die subtile Machart der Serie wahre Wunder. Wie intensiv kann eine Szene schon sein, in der sich ein alter Mann vor dem elektrischen Mikrofon in einem Gerichtssaal fürchtet? So intensiv wie Mord und Totschlag.
Showrunner Vince Gilligan, Thomas Schnauz und Peter Gould sitzen vor dem Stromgenerator, und drehen den Leistungsregler langsam aber kontinuierlich auf. Über die zehn Episoden steigt die unterschwellige Spannung. Doch sie scheint sich immer noch nicht komplett entladen zu wollen. Stattdessen wird, wie schon beim Finale der ersten Staffel, der Spannungsbogen auf das kommende Jahr übertragen.
Mike sorgt für Ecken und Kanten
Es geht nicht nur um Jimmy. Mike bekommt mindestens 40 Prozent der Serie für sich selbst. Hin und wieder überschneidet sich sein Handlungsstrang mit dem Anwalts-Drama. Doch mit Bürokratie will Mike eben so wenig zu tun haben wie Jimmy. Mike geht eigenständig auf Verbrecherjagd. Seine Auseinandersetzung mit den Salamancas erinnert stark an die alten Zeiten aus Breaking Bad (bzw. die zukünftigen Zeiten aus storytechnischer Sicht).
Während sich beim Handlungsstrang McGill und Co. niemand ernsthaft in Lebensgefahr befindet und Mord nicht zum Alltagsgeschäft gehört, sorgt Mikes Geschichte für einige willkommene Ecken und Kanten. Zwar erreichen Mikes Szenen nicht die Thriller-Effekte des Originals; sie sind trotzdem mächtig unterhaltsam.
Der stille Ex-Polizist mit den toten Augen ist nicht umsonst ein Fanliebling. Nach aussen eiskalt, nach innen jedoch lieber Opa, ist er ein vielschichtiger Charakter mit dem man sich leicht identifizieren kann.
Erzählerischer Minimalismus mit großartigem Effekt
Wie kreiert man so effektive Charaktere? Mit Sorgfalt und Geduld. Vince Gilligan lässt sich mit der Vorgeschichte von Saul Goodman alle Zeit der Welt. Er hat kein Problem damit, wenn eine Folge mal keine typische „Crowdpleaser“- Szene á la Cliffhanger, überraschende Wendung, Actionszene, usw. bereithält. Es scheint ihm sogar völlig zu sein. Er und sein Drehbuchautoren-Team geben der Geschichte soviel Freiraum, wie sie braucht. Das ist nicht nur seltsam, sondern auch ganz schön mutig. Heutzutage werden Serien immer größer, schneller und härter (z.B. Game of Thrones). Doch Gilligan denkt sich nur „Whatever“ und feilt weiter an seinen Dialogen.
Die winzigen Schritte der Handlung und der minimale Ausschlag an actionreichen Ereignissen werden von mir keinesfalls schön geredet. Sie haben einen deutlich spürbaren Effekt: Die Serie ist unglaublich involvierend; wenn man sich denn auf sie einlässt. Alles was passiert ist interessant. Wenn Jimmys Fernsehwerbespots seinen Boss Cliff (Ed Begley Jr.) zur Weißglut bringen, oder Jimmy einen nerdigen Drogendealer aus dem Würgegriff der Detectives befreien muss, dann ist das genauso intensiv wie eine Zeitbombe in einem Mission Impossible Film. Es kommt eben nicht auf das „Was passiert?“ an, sondern viel mehr auf das „Wie wird es inszeniert?“. Timing und Umsetzung ist alles. q.e.d