8.3/10

Kritik: Corpus Christi

DAS ALTER EGO EINER GESELLSCHAFT

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Genres: Drama, Thriller, Startdatum: 03.09.2020

Interessante Fakten für…

  • 2020 nahm Corpus Christi am Oscar-Rennen um den besten internationalen Film teil. Mit Parasite war die Konkurrenz allerdings zu stark.

In unserer amerikanisch geprägten Filmwelt gehen Jahr für Jahr viele, nicht englischsprachige, Filme verloren. Der historische Oscargewinn von Parasite scheint das nun zu korrigieren. Doch genau in diesem Trubel bekamen andere Filme erneut wenig Spotlight. Das, ebenfalls für den Oscar nominierte, Drama “Corpus Christi” trat 2020 für Polen an und ging, in Anbetracht der riesigen Konkurrenz, eher unter. Ob das seine Berechtigung hat oder ob ein kleiner polnischer Film über den religiösen Glauben viel größere Wellen hätte schlagen sollen, erfahrt ihr in dieser Kritik.

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#ILikeToMoveIt #Mindfuck #Klassikernerd

Darum geht’s

Der junge Pole Daniel wird nach einer unbestimmten Zeit aus dem Gefängnis entlassen. Ohne Perspektive und als Krimineller abgestempelt, soll er von nun an in einem abgelegenen Sägewerk arbeiten. Aufgrund seiner Vorstrafen scheint sein eigentlicher Traum Priester zu werden unerreichbar.

Doch eine kleine zufällige Begegnung in der Kirche eines ländlichen Dorfes nahe dem Sägewerk soll für Daniel zum Lichtblick werden. Denn durch einen beiläufigen Schwindel erhält er den Posten als Aushilfspater, da der Pater des Dorfes dank eines Krankheitsfalls nicht arbeiten kann. Schnell nimmt er die Rolle an und beginnt in typischer Hochstapler-Manier die Kirchengemeinde durch seine unkonventionellen Methoden langsam zu formen, wodurch er sich bald zu einer kontroversen Figur in dem beschaulichen Dorf entwickelt.

Als er dann noch mit den Folgen eines vergangenen Unfalles, dessen Todesopfern und den damit verbundenen Spannungen konfrontiert wird, entspinnt sich ein Konflikt um den Glauben eines jeden Beteiligten, in welchem Daniel gleichermaßen um seine eigene wie um die Erlösung der Gemeinde kämpft.

Corpus Christi ist kein Film über Religion

Man erkennt das beispielsweise daran, dass Momente wie Gottesdienste, Beichten, oder Gebete, wie wir sie uns in traditioneller Form vorstellen, kaum Platz in der Handlung finden und, wenn sie auftreten, in einer Form inszeniert werden, welche sie absichtlich ins Absurde oder fast schon Komödiantische treibt.

Corpus Christi ist ein Film über Menschen

Menschen, die durch ihre Vergangenheit von großem Hass und Zorn gezeichnet sind und viele dieser Emotionen über einen langen Zeitraum in sich verschlossen gehalten haben. Allein die Religion ist das, was diese Menschen alle gemeinsam haben. Ein Glauben, der sie sowohl als Gemeinschaft und Individuum verbindet, wenn andere Verbindungen plötzlich wegfallen.

Verzeihen heißt nicht vergessen. Verzeihen heißt lieben. Jemanden trotz seiner Schuld zu lieben. Ganz gleich was er getan hat.

Daniel in Corpus Christi

Durch Daniel als Neuankömmling, und dadurch als Außenstehenden, gelingt es dem Film diese Zustände Schritt für Schritt langsam zu beleuchten und dabei auf fast schon analytische Art und Weise die Frage zu stellen, ob der Glaube wirklich für jeden gleich zugänglich ist und ob manche ihn nur vorschieben, um ihre wahrhaftigen Gefühle zu verschleiern.

Weit entfernt von himmlisch

Wer bei diesem Stoff einen trockenen Film erwartet, liegt falsch, denn Corpus Christi zeichnet sich durch eine düstere und harte Atmosphäre aus. Schon die erste Szene eröffnet den Film mit einer brutalen Intensität, welche im Laufe des Filmes immer wieder einzelne Situationen prägt. Diese Momente bleiben im Kopf und treiben das Tempo des Filmes an.

In der Dorfgemeinschaft brodeln viele unterdrückte Gefühle.

Besonders entsteht diese beklemmende Atmosphäre durch die grandiose technische Umsetzung. Die Kamera fängt ungeniert Bilder von rauer, intensiver Energie ein und schaut nicht weg, wenn das Gezeigte unangenehm oder heftig wird. Der Film lädt die Zuschauer dazu ein, in diese kräftigen Bilder einzutauschen, um die Intensität der dargestellten Momente mitzuerleben. Auf den ersten Blick wirken diese Momente zwar oft ruhig, ohne große Effekte und Ereignisse. Doch bei genauer Betrachtung fällt eine unglaublich angespannte, brodelnde und fast schon elektrisierende Energie auf, welche sich unterbewusst auf das Publikum überträgt. Die allgemeine Stimmung des Filmes geht kurz gesagt unter die Haut und in die Gedanken der Zuschauer und wird diese, wenn sie sich dem hingeben, nicht mehr so schnell loslassen. Diese Bereitschaft muss jedoch vorhanden sein, denn mit einer Laufzeit von 116 Minuten ist der Film zwar weit von einer Überlänge entfernt, jedoch ergibt sich durch die oft statische Inszenierung und die sehr subtile Behandlung der Thematik im Gesamtbild ein beschleunigtes Kinoerlebnis, welches man an sich heranlassen muss.

Eine One-Man-Predigt

Neben der technischen Umsetzung hinter der Kamera begeistert der Film auch mit seinem Hauptdarsteller vor der Kamera. Bartosz Bielenia überragt mit einer Performance, die von reduziertem Schauspiel bis zu großen emotionalen Momenten alles abdeckt. Bielenias eiskalte blaue Augen und das hagere Gesicht fordern die Aufmerksamkeit des Zuschauers in jeder Szene und selbst wenn das Schauspiel nur aus minimalistischen, aber unglaublich präzise gesetzten Blicken besteht, entwickelt die Figur des Daniel schon von Anfang eine Faszination.

Die Darstellung des Daniel durch Bartosz Bielenia wird keinen Zuschauer kaltlassen.

Es ergibt sich eine Performance, welche ohne tausend Worte unglaublich viel erzählen kann. Denn obwohl das Publikum kaum Konkretes über Daniels Geschichte erfährt, wird es seine Vergangenheit und seinen besonderen Bezug zum Glauben zwischen den Zeilen verstehen und nachempfinden können. Leider verblassen die anderen Figuren im Vergleich, trotz gegebenen Tiefgang, ein wenig. Besonders die Pfarrerstochter Marta (Eliza Rycembel) entwickelt nicht ganz die vom Film beabsichtigte Wirkung. Da Corpus Christi sich jedoch stark auf Daniel fokussiert und es kaum Szenen gibt in welchen er nicht auftritt, steht dies nicht besonders negativ heraus.

Fazit

8.3/10
Stark
Community-Rating:
Handlung 8/10
Schauspiel 7.5/10
Tiefgang 8.5/10
Atmosphäre 9/10
Visuelle Umsetzung 8.5/10
Details:
Regisseur: Jan Komasa,
FSK: 16 Filmlänge: 116 Min.
Besetzung: Aleksandra Konieczna, Bartosz Bielenia, Eliza Rycembely, Tomasz Zietek,

Corpus Christi ist ein Film, der, auch auf seine polnische Herkunft bezogen, viel wagt und viel gewinnt. Durchzogen von einer anspruchsvollen Thematik gelingt es dem Film mittels viel Feingefühl, verschiedene Charaktere und Denkweisen zu beleuchten und Systeme zu hinterfragen, ohne sie dabei zu verurteilen. Getragen von starkem Schauspiel und kräftigen Bildern wird der Film, nicht nur für Zuschauer, die sich mit dem religiösen Thema auskennen, zu einem besonderem Seherlebnis, sondern für Liebhaber von kleineren, langsamen Werken, welche sich viel Zeit für Charaktere und eine tief greifende Geschichte nehmen.

Artikel vom 22. Oktober 2020

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