Kritik: The Wailing – Die Besessenen
DAS KOMPLEXESTE MYSTERIUM SEIT ‘SHUTTER ISLAND’
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In einem südkoreanischen Dorf ist wortwörtlich der Teufel los. Immer mehr Dorfbewohner scheinen den Verstand zu verlieren und bringen anschließend ihre Familien um – oder sich selbst. Polizist Jong-gu (Kwak Do-won ) ist mit den brutalen Morden überfordert. Die Angelegenheit wird persönlich, als schließlich auch Jong-gus kleine Tochter (Kim Hwan-hee) dem Wahnsinn verfällt. Stehen die Vorfälle im Zusammenhang mit dem fremden Japaner, der immer wieder im Dorf gesichtet wurde?
Irgendwas ist anders – die Dialoge, die Mimik der Schauspieler. Als Hollywood affiner Kinogänger spürt man sofort den Unterschied. Das macht sich spätestens dann bemerkbar, wenn der obligatorische Hanswurst aus der letzten Kinoreihe den Film fortführend mit bemängelnden Kommentaren korrigieren muss. Der typische Dialogaufbau oder die klassischen Filmmittel, die einem erst auffallen, sobald sie weg sind, machen aus The Wailing ein „exotisches“ Filmerlebnis, das bei einigen Zuschauern einen filmischen „Kulturschock“ auslösen könnte. Dabei bietet der südkoreanische Mysteryfilm hohe Unterhaltungswerte.
Dennoch muss man The Wailing nicht alles verzeihen, das vorerst komisch wirkt. In den ersten 20 Minuten findet der Film keine Dynamik. Man stolpert von Exposition zu Exposition, ohne dass das Drehbuch seinen dynamischen Erzählfluss findet. Doch nach mehreren Startversuchen springt der Motor schließlich an und The Wailing entführt die Aufmerksamkeit seiner Zuschauer in die faszinierende Welt der Mystik und des Aberglaubens. Die größenwahnsinnige Laufzeit von über 150 Minuten vergeht wie im Flug.
Auch wenn die deutsche Synchronisation nicht ganz dem Standard großer Hollywoodproduktionen standhalten kann, ist die beachtliche Leistung der Schauspieler schnell erkennbar. Kwak Do-won als neurotischer und unsicherer Protagonist zeigt ein Facettenreichtum, dass man von den eindimensionalen Charakteren des Horror-Genres eigentlich nicht gewohnt ist. Die kleine Kim Hwan-hee ist zwar das typische „Grusel-Mädchen“ mit langen schwarzen Haaren, holt aus diesem Stereotyp aber das Maximum an Authentizität heraus.
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The Wailing ist kein klassischer Horrorfilm. Wer einen geradlinigen Asia-Schocker à la The Ring oder The Grudge erwartet, der erwartet zu viel – oder eben zu wenig. Denn Regisseur Na Hong-jin verzichtet auf den billigen Jumpscare und konzentriert sich stattdessen auf Mystery und Suspense. Besonders intensiv sind die hypnotisierenden Exorzismen, die sich von jedem Hollywood-Klischee stilistisch unterscheiden.
Der Film scheut sich zwar nicht vor Splatter und Gore, instrumentalisiert diesen aber nicht. Die Geschichte steht im Vordergrund. Einige Twists und Offenbarungen sind dabei schon unangenehm genug. Da erscheint der bescheidene Einsatz von klassischen Horror-Elementen ganz sympathisch.
Der Film gaukelt uns Zuschauern vor, die Geschichte überblicken zu können. Doch besonders in der zweiten Hälfte nimmt The Wailing einige schwindelerregende 180-Grad-Wenden vor, die uns ratlos zurücklassen. Dabei erklärt das Drehbuch genug – es verrät bloß nicht, welche Erklärung die Richtige ist.
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Die Geschichte basiert zum Großteil auf dem biblischen Aberglauben und verstrickt diesen mit der Naivität der kleinstädtischen Gesellschaft. Ist der „Fremde“ wirklich der Böse? Gibt es eine Verschwörung? Ist es Satans Werk? Das Mysterium spielt nicht nur mit den Charakteren, sondern auch mit den Zuschauern. Ebenso wie jeder Dorfbewohner seine ganz eigene Erklärung für die grauenvollen Ereignisse zu haben scheint, werden nach dem Kinobesuch ausufernde Diskussionen initiiert, wie das Ganze denn nun zu interpretieren sei. Denn das Ende gibt mehr Fragen als Antworten.
The Wailing ist, ebenso wie z.B. Blade Runner, ein Film, der öfter angeschaut werden muss. Während der erste Durchgang noch etwas unbefriedigend und unschlüssig wirken kann, wird die Geschichte mit fortschreitender Investition immer interessanter. Zwar ist das Horror-Märchen keine anspruchsvolle oder hoch gesellschaftskritische Abhandlung, funktioniert aber als Mystery-Puzzle einwandfrei.
„Sieh meine Hände und Füße, dass ich es selbst bin. Berühre mich und sieh. Denn ein Geist hat kein Fleisch und keine Knochen, wie Sie sehen, dass ich es habe“
Lukas 24: 37–39
Der südkoreanische Grusel-Film mit gewaltiger Überlänge ist keine Mutprobe, sondern viel mehr eine Rätselaufgabe. Wer klassische Schocker erwartet und dabei schön aus seinem Sitz springen will, der sollte sich womöglich eher für den neuen Es entscheiden. The Wailing ist ein subtiles und dennoch unterhaltendes Mystery-Drama, das durch sein mehrdeutiges Storytelling für viel Diskussionsstoff sorgt. Die unbeholfene und schleppende Einführung in die Geschichte mindert nicht die Lust auf einen Rewatch, um das Werk in seiner Ganzheit zu erfassen.
Artikel vom 16. Oktober 2017
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