8/10

Kritik: Napoleon

VIVE LA TOXICITÉ!

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Genres: Action, Biografie, Drama, Historienfilm, Startdatum: 23.11.2023

Interessante Fakten für…

  • Ridley Scott hat bereits einen 4h-Directors-Cut angekündigt.
  • Der Film wurde in nur 61 Tagen abgedreht.

Regie-Altmeister Ridley Scott hat immer noch nicht genug. Mit ‚Napoleon‘ steht das nächste großangelegte Historien-Epos an. Mit tollem Staraufgebot, einer hochdramatischen Biografie und jeder Menge Spektakel – was soll da noch schief gehen?

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Darum geht’s

Frankreich ist im Umbruch! Das Volk hat dem Königshaus den Krieg erklärt und neben Königin Marie Antoinette auch zigtausende Adlige durch die Guillotine hingerichtet. Inmitten der Auseinandersetzungen zwischen Republikaner*innen und Royalist*innen steht Napoleon Bonaparte (Joaquin Phoenix, Joker) – ein ehrgeiziger und vor allem strategisch exzellenter Offizier, der große Pläne hat. Während er auf dem Schlachtfeld über jeden Zweifel erhaben ist, bahnt sich privat eine äußerst toxische Beziehung mit Joséphine de Beauharnais (Vanessa Kirby, Mission Impossible: Fallout) an…

Es gibt einen #ScottCut!

Schon vor dem Kinostart verkündete Apple TV und Ridley Scott, dass in absehbarer Zeit ein vierstündiger Directors-Cut auf der Streaming-Plattform veröffentlicht wird. Das wirft die Frage auf: Welche Stationen und zwischenmenschlichen Konflikte aus Napoleons Leben wurden für die Kinofassung herausgeschnitten? Und ist die Langfassung der bessere Film?

Mit dem immer noch sträflich unter dem Radar fliegenden Directors-Cut von Königreich der Himmel legte Scott damals im Vergleich zur mediokren Kinofassung ein wahrhaftiges Meisterwerk vor. Die Storyline und weite Teile der Charakterzeichnung ergaben plötzlich viel mehr Sinn und zeigten: manche Geschichten brauchen Zeit, um sich zu entfalten. Vor allem, wenn ein Ridley Scott auf dem Regiestuhl Platz nimmt. Ob dies auch bei Napoleon der Fall ist, bleibt abzuwarten. Doch die jetzige Kinofassung lässt erahnen: da geht noch mehr!

Geschichtsstunde, Schlachtplatte, Beziehungsdrama

Mit satten 158 Minuten Laufzeit ist auch die Kinofassung von Napoleon ein echter Brocken. Und dennoch findet sich keine Sekunde Leerlauf darin. Die Exposition und der Aufstieg des Königs sind kompakt erzählt, aber nicht überfordernd. Selbst Zuschauer*innen, die damals in Geschichte nicht allzu sehr aufgepasst haben, können sich die historische Rahmenhandlung immer wieder erschließen. Mit Sicherheit wird sich aber gerade hier noch zusätzliches an politischen Intrigen im Directors-Cut wiederfinden, denn viele Meilensteine werden sehr rudimentär erwähnt und haben definitiv Luft nach oben.

Unterbrochen wird die Geschichtsstunde von Schlachten, die einmal mehr zeigen: selbst mit seinen 85 Jahren ist Ridley Scott so stilsicher wie kein zweiter. Wenn die Armeen ineinander krachen, während Kanonenkugeln Soldaten in ihre Einzelteile zerlegen, dann entsteht gerade auf der großen Leinwand ein beklemmender Sog, der unter die Haut geht. Diese Momente kommen mit einer derart expliziten Gewalt daher, dass man sich fragen muss, was die FSK geraucht hat, um dem Film eine Freigabe ab 12 zu geben. Abgeschossene Gliedmaßen, klaffende Wunden und literweise Blut in den Seen von Austerlitz sind Kindern wohl zuzumuten. Naja, zurück zum Thema.

Napoleon Bonaparte (Joaquin Phoenix) entpuppt sich schnell als guter Stratege.

Phoenix und Kirby eigenartig gut

Der (nennen wir es mal) emotionale Kern der Geschichte dreht sich um die Ehe/Liebschaft von Napoleon und Joséphine. Und die darf getrost als höchst toxisch bezeichnet werden. Napoleon ist gleichermaßen besitzergreifend wie auch emotional abhängig von seiner Geliebten, wie Passagen aus seinen Briefen immer wieder unangenehm deutlich machen. Auf der anderen Seite ist auch Joséphine eine selten ambivalente Figur, der man nie so genau ansehen kann, ob sie die Beziehung aus opportunistischen Gründen oder tatsächlicher Zuneigung aufrechterhält.

Das gipfelt in Szenen, die manchmal nur sehr schwer auszuhalten sind. Toternste Aussagen wie „Du bist nichts, ohne mich“ werden von seltsamer Stille oder grotesk-witzigen Sexszenen begleitet. Vanessa Kirby trifft den richtigen Ton zwischen Verzweiflung, Verführung und zerbrechlicher Überlegenheit. Joaquin Phoenix‘ Schauspiel ist sogar noch eine Spur interessanter und wurde zu Unrecht von einigen Kolleg*innen als „abwesend“ betitelt. Das hängt nämlich davon ab, wie man Ridley Scotts Ansatz bewertet.

‚Napoleon‘ ist kein Biopic

Auch, wenn es der Trailer suggeriert: im Kern geht es in Napoleon nicht um den Aufstieg und Fall des Feldherrn. Vielmehr zeichnet Scott das Psychogramm eines gebrochenen Narzissten. Immer wieder blitzt die Zerbrechlichkeit des sonst so eiskalten Tyrannen durch: wenn Napoleon vor der ersten Schlacht nervös mit sich selbst spricht; vor dem Putsch wie ein Tiger auf und abmarschiert; beim Treffen mit dem russischen Kaiser etwas zu überschwänglich ist oder die Kanonenkugel, die sein Pferd zerfetzt hat, als Zeichen seines Kampfeswillen an seine Mutter schickt.

Auch, wenn viele dieser Szenen etwas bewusst humoristisches innehaben, ist der grelle Egoismus und die kindliche Verbissenheit Napoleons mehr als deutlich. Schon zu Beginn deutet Ridley Scott diese Charakterzüge an, wenn Napoleon vor einem Machthaber im Sitzen einschläft. Ja, das Thema Dissoziation von der Außenwelt bleibt bis zur allerletzten Szene präsent. Dass Phoenix seinen Napoleon als entrückt, kindlich und dickköpfig verkörpert ist für Scotts Intention genau richtig. Wie viele Figuren, die in Napoleon aufkreuzen, steht er immer auch knapp an der Grenze zur Karikatur.

Eine Beziehung mit Folgen: Joséphine (Vanessa Kirby) und Napoleon (Joaquin Phoenix).

Die Geschichte wird von den Gewinnern geschrieben

Bereits im Vorfeld wurden viele historisch ungenaue Darstellungen in Napoleon kritisiert. Doch auch hier ist wichtig, zu verstehen, dass Scott seinen Film durch die Brille seiner Hauptfigur zeigt. Somit muss jeder niedergeschlagene Aufstand, jede politische Debatte und jede noch so glorreiche Schlacht auf ihre Wahrhaftigkeit hinterfragt werden. Denn dass Napoleon spätestens beim Einmarsch in Russland den Bezug zur Realität verliert, sollte auch den Zuschauer*innen an irgendeinem Punkt klar werden.

„Wir werden siegen!“

Napoleon inmitten erfrierender Soldaten in Russland

Nein, Napoleon ist kein historisch akkurates Biopic. Und es ist schon gar nicht die Huldigung eines „erfolgreichen“ Eroberers. Es ist der verzerrte Blick eines problematischen Egomanen auf sich und seine Rolle für das Land, das er angeblich liebt und gleichzeitig in den Abgrund treibt. Ridley Scott dekonstruiert seinen „Helden“ bis zu dem Punkt, an dem er einem fast leidtun kann. Doch im Abspann baut der Regisseur auf simple Weise die Brücke zur Realität. Und allerspätestens dann sollte Scotts Absicht mit seinem Epos klar werden.

Fazit

8/10
Gut
Community-Rating: (1 Votes)
Handlung 7.5/10
Schauspiel 8/10
Action 8/10
Tiefgang 7.5/10
Ausstattung 9/10
Details:
Regisseur: Ridley Scott,
FSK: 12 Filmlänge: 158 Min.
Besetzung: Edouard Philipponnat, Ian McNeice, Joaquin Phoenix, Ludivine Sagnier, Tahar Rahim, Vanessa Kirby,

Napoleon ist nicht unbedingt der Film, den wir erwartet haben und ist trotzdem auf seine ganz eigene Weise sehr gelungen. Ridley Scott zeichnet kein historisches Biopic, sondern blickt durch die Augen seiner entrückten Hauptfigur. Dabei wird den Zuschauer*innen in aller Deutlichkeit die Problematik zutiefst narzisstischer Anführer offenbart. Das spiegelt sich einerseits in der äußerst toxischen Beziehung zu Joséphine wider, als auch in den opulent inszenierten Schlachten, die von Napoleon mit einer erschreckenden Kälte durchgeführt werden. Wer sich auf die Dekonstruktion einer Jahrtausendfigur einlässt, wird belohnt. Wer eine möglichst genaue Biografie erwartet, sollte womöglich auf den Directors-Cut warten – oder einfach Wikipedia aufsuchen.

Artikel vom 25. November 2023

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